Erich Kaul

Marinesoldat in Tsingtau,

Kriegsgefangener in Japan

1914 bis 1920

 

Alle Rechte bei Frau Hildegard Zabel, Neue Kulmer Str. 2, 10827 Berlin.

Vom Original des Tagebuchs abgeschrieben und für den Druck vorbereitet

von Hans Zabel

 

Erlangen 2001

Privatdruck

Statt eines Vorworts

Die chinesische Stadt Quingdao, in Deutschland besser bekannt in der alten Schreibweise Tsingtau, war von 1898 bis 1918 deutsches Pachtgebiet. Das wilhelminische Deutschland hatte im Jahr 1898 die Bucht von Kiautschou (heute Jiaozhou) besetzt und der kaiserlichen chinesischen Regierung einen Pachtvertrag über 99 Jahre abgezwungen. Deutschland war damals vor allem an einem Marinestützpunkt im Fernen Osten interessiert. Aber es lockten auch der chinesische Markt und die Rohstoffe dieses Landes.

  Bis 1914 war Tsingtau mit rund 5000 Soldaten besetzt. Als der 1. Weltkrieg ausbruch, standen die Japaner auf Seiten der Alliierten. Nach kurzem Kampf gegen eine zehnfache Übermacht wurden die deutschen Soldaten gefangengenommen und in zwölf Lager nach Japan gebracht.

  Vom Kampf um Tsingtau am Anfang des Krieges und von langer Kriegsgefangenschaft, zuerst in Kinshicho am Rande von Tokyo und später in Narashino auf der Chiba-Halbinsel, handelt der hier wiedergegebene Bericht. Er ist - von einer autobiographischen Einleitung abgesehen - als Tagebuch notiert und läßt manches vom Patriotismus junger Deutscher in jener Zeit ebenso erkennen wie von einer während langer Gefangenschaft gereiften Persönlichkeit des Verfassers.

  Erich Kaul ist 1941 in Berlin - im Alter von fünfzig Jahren - an einem Asthma-Leiden gestorben.

H. Z.

 

Die Gefangenschaft in Narashino

  Untergebracht wurden wir vorn im Zwischendeck und schliefen hier ungefähr wie im Karnickelstall. Unsere Verpflegung bestand aus warmem Wasser, genannt Tee, Reis, Hartbrot und widerlich süß schmeckendem Dosenfleisch. Trotz des schlechten Lagers schlief ich in der Nacht wie gewiegt.

  15. November. Von dem harten Lager und dem dichtgedrängten Liegen habe ich heute die Folgen gespürt; die Glieder schmerzen den ganzen Tag. Auch hatte die Kälte das Nötige dazu getan. Gegen sieben Uhr am Morgen gingen wir in See und verließen die Bucht von Shat ze kou. Unsere Beschäftigung bestand aus Schlafen, Trinken und Kartenspiel.

  16. November. Heute erreichten wir die Straße von Shimonoseki, eine Meerenge zwischen der japanischen Hauptinsel Honshu und der Insel Kyushu im Süden. Herrliche Landschaften auf beiden Seiten. Es herrschte ein reger Schiffsverkehr.

  Am 18. November gegen sieben Uhr morgens waren wir am Ziel unserer Seereise: Oshima. Wir mußten noch eine Weile an Bord bleiben und vertrieben uns die Zeit mit allerlei Kurzweil. Warmes Essen gab es auch diesmal nicht und wir sangen wieder unsern Kohldampfmarsch. Noch zwei Tage werden wir an Bord bleiben müssen, hörte ich. Nun hatte ich reichlich Gelegenheit, die nähere Umgebung von Bord aus zu betrachten. Es war ein sehr schönes Hafenbild, eingeschlossen von hohen Bergen. Weit im Hintergrunde sah ich am Fuße eines Berges die Stadt Hiroshima liegen. Ich hatte schon gehofft, im Laufe dieses Tages von dem elenden Scheuerprahm herunterzukommen.

  Am 20. November konnten wir das Schiff verlassen. Auf dem Platz vor dem Bahnhof wurde angetreten und jeder erhielt eine Nummer. Auch gab es Verhaltensmaßregeln. Hier erfuhren wir auch, daß wir nach Tokyo gebracht werden und eine Bahnfahrt von 46 Stunden vor uns haben. Um sechs Uhr abends wurden wir in den Zug verteilt. Wir saßen furchtbar eng. Unser Gepäck kam in den Packwagen. Gegen sieben Uhr setzte der Zug sich in Bewegung und trug uns dem Inneren Japans zu, in jedem Wagen drei Mann zur Bewachung. Im ganzen waren wir ca. 300 Mann im Zug.

  21. November. Eine Nacht halben Schlafens und Wachens lag hinter uns. Herrliche Landschaften zu beiden Seiten boten uns reiche Abwechslung. Früh am Morgen war unser erster Aufenthalt in Okayama. Jeder erhielt zwei gekochte Eier, Weißbrot und warmen Tee. Dies bekamen wir abwechselnd mit Fleisch und kalten Pellkartoffeln, bei jeder Station, an der wir Aufenthalt hatten. Um 10:30 Uhr eine Stunde Aufenthalt in Himeji. In Kobe hatten wir eine herrliche Aussicht auf den Ankerberg. Am Bahnsteig wurden wir von ein paar deutschen Landsleuten begrüßt. Eine Japanerin verteilte Bonbons. Am Nachmittag passierten wir Kyoto, die frühere Hauptstadt Japans.

  Am 22. November um sieben Uhr morgens erreichten wir Shizuoka, am Nachmittag Yokohama. Um 4:30 Uhr lief unser Zug in Shinagawa ein, einem Vorort von Tokyo. Das war die Endstation. Ich hatte nun eine herrliche Eisenbahnfahrt hinter mir, wie ich noch nie eine erlebt habe. Die Fahrt ging durch Bergland, über breite Flüsse und durch viele Tunnels, vorbei auch am Fujiyama, dem größten und heiligen Berg Japans. Er ist ein Vulkan wie es 170 weitere im Lande geben soll. Weithin ist er sichtbar. Auf so mancher Station wurden wir von oft vielen Menschen bestaunt, ist doch wohl nur selten ein Ausländer von ihnen gesehen worden. Die Straßen und Plätze am Bahnhof Shinagawa, zwei Stationen vor Tokyo, waren dicht gefüllt von Menschen. Schon auf dem Bahnsteig wurden wir viele Male photographiert. Vor dem Zuge nahmen wir Aufstellung. Wir wurden in Gruppen von je fünfzig Mann eingeteilt. Als dies beendet war, erschien plötzlich eine Japanerin und verteilte Blumen, an jeden von uns eine. Dabei war ein kleiner Zettel, auf dem gedruckt stand:

    Aus Dankbarkeit für die mir von einem deutschen Ehepaar erwiesene Güte sei Ihnen

    dieser Gruß gebracht. Frau Aki Hayama, No 1 Y. chome, Minami Sakuma, Shiba, Tokyo.

Dieser Gruß bereitete uns allen große Freude. Ein sonderbares Gefühl, als Kriegsgefangener im Feindesland mit Blumen beschenkt zu werden. Als wir den Bahnhof verließen, wurden wir von einer großen Menschenmenge mit den Rufen Banzai! Banzai! * empfangen. Ich wußte nicht: waren es Rufe der Freude, Bewunderung oder Wut. Von allen Seiten wurden wir photographiert und kinematographisch aufgenommen. Polizei und Militär hatten zu tun, uns den Weg zur elektrischen Straßenbahn freizuhalten. Mit dieser Bahn fuhren wir fast durch ganz Tokyo, so schien es mir. Alle Straßen, die wir durchfuhren, waren voller Menschen, so daß die Bahn oftmals anhalten mußte, da Menschen den Weg versperrten. Nach zweistündiger Fahrt erreichten wir unser uns unbekanntes Ziel. Also hier aussteigen.

Nur einzeln konnten wir uns durch die Menschenmenge drängeln, einem großen Tore zu, welches der Eingang zu einem großen Hofe war. Hier waren schon weniger Leute, und als wir ein zweites Tor passiert hatten, waren wir aus dem Gedränge heraus. Wir waren in Kinshicho, nahe der Tokyo-Bucht, in einem Tempel-Bereich. Wir stellten uns vor einem kleinen hölzernen Gebäude auf; als die nötigen Meldungen gemacht waren, wurden wir zu einem anderen Gebäude gleicher Art geführt, an dessen Vorbau wir die Schuhe ausziehen mußten. Drinnen in der Halle empfing uns der Vorsteher des Gefangenen-Heims, Oberleutnant Maki Saigo, mit einer Ansprache in gebrochenem Deutsch und las uns Verhaltensregeln vor. Dann wurden wir auf die einzelnen Quartiere verteilt. Es waren dies Räume mit Holzwänden, Papierfenstern und Fußböden aus Strohmatten. Jetzt kam das Abendessen: nach langer Hartbrot-Verpflegung gab es endlich mal wieder etwas anderes. Was das eigentlich war, konnte ich nicht erraten, aber es hat geschmeckt. Nur war es zu wenig. Nach dem Essen kam unser Gepäck. So konnten wir uns nach langer Zeit wieder einmal umziehen und es uns bequem machen. Zum Schlafen erhielt jeder sechs Decken, zwei Laken und eine Kopfrolle. Das Bett war der Fußboden. Nach einer Fahrt von 46 Stunden schlief ich in dieser Nacht den Schlaf des Gerechten.

  Am nächsten Tag wurden wir um 6:30 Uhr durch Trompetensignal geweckt. Zehn Minuten später war Antreten zum Frühappell. Um 7:30 Uhr gab es Frühstück, bestehend aus Tee, Brot und Butter. Die Behandlung von Seiten der Japaner ist sehr human. Am Vormittag eineinhalb Stunden Bewegung auf dem Hofe, desgleichen eine Stunde am Nachmittag. Zur Zeit werden hier große Tempelfeste gefeiert.

  Die Zeit vertreibt man sich mit Kartenspiel, Lesen, Schreiben und Rauchen. Es gibt eine Kantine, wo man allerhand Kleinigkeiten kaufen kann. Ich wechselte hier mein letztes Geld um; es waren achtzehn Dollar. Erstmals seit vier Monaten schrieb ich einen Brief und vier Postkarten nach der Heimat.

      * Vergleichbar dem deutschen "Hurra!", wörtlich: 10,000 Jahre sollst du leben!

  29. November. Heute war um 10:30 Uhr Gottesdienst, gehalten mit einer guten Rede von einem Missionar. Die Feier war trotz ihrer Einfachheit sehr ergreifend. Am Abend wurden zwei Chinesen aus Ponape zu uns gebracht, die dort in ärztlicher Behandlung waren und von den Japanern gefangengenommen wurden.

  4. Dezember. Herr Dr. Überschär, ein Mitgefangener in unserem Lager, hielt am Abend einen interessanten Vortrag mit dem Thema: Land und Leute Japans. Am Vormittag des folgenden Tages wurden wir von einem japanischen Arzt geimpft.

  7. Dezember. Die Buddhistengemeinde von Tokyo hielt heute einen Gottesdienst ab zum Gedenken der bei Tsingtau gefallenen Japaner und Deutschen. Danach erhielt jeder von uns ein kleines Geschenk.

  Am 8. Dezember untersuchte uns ein japanischer Militärarzt auf Verletzungen und innere Krankheiten. Mein Gewicht beträgt 19,40*. Von jetzt an gibt es mehr Nachrichten vom heimatischen Kriegsschauplatze. Unser Oberstleutnant Kuhlo liest uns stets die neuesten Meldungen aus einer englischen Zeitung vor. Trotzdem diese meist stark verlogen waren, konnte man doch zwischen den Zeilen lesen, daß unsere Kameraden dort langsame, aber sichere Fortschritte machen. Wir freuen uns immer sehr, wenn ein Sieg gemeldet wird, hoffen wir doch, bald wieder von hier fortzukommen. Am Abend Fortsetzung des Vortrages: Die japanische Verfassung.

      *Japanische Gewichtseinheit, auf kg umzurechnen mit Faktor 3,75

  11. Dezember. Nach des Tages ewiger Uhr war am Abend ein Vortrag über die Religion Japans, die Shinto-Religion.

  15. Dezember. Heute wurde die Küche, die solange von den Japanern geführt wurde, von uns selbst übernommen. Das Essen, das uns unsere Köche zubereiten, mundet uns natürlich besser als die japanischen Speisen, trotzdem dieselben auch nicht zu verachten sind. Um sechs Uhr abends wieder Vortrag: Christentum und Buddhismus in Japan.

  23. Dezember. Vorbereitung zum Weihnachtsfest. Wir erhielten buntes Papier und Pappe und verfertigten daraus Ketten und Transparente. Alle taten ihr Bestes, um das Quartier so gut wie möglich auszuputzen.

  24. Dezember. Meine erste Weihnacht im Ausland, noch dazu als Kriegsgefangener in Japan. Zu unser aller Freude erhielten wir auch einen Weihnachtsbaum, ohne den wir Deutsche uns kein fröhliches Weihnachtsfest vorstellen können. Da es in Süd- und Mitteljapan keine Tannen gibt, hatten auf Anregung des Christlich-Japanischen Jünglingsvereins in Tokyo ein deutscher Gelehrter und sein japanischer Kollege, der in Deutschland seinen Doktorgrad erworben hatte und die beide in Nord-Japan leben, 55 schöne Tannen ausgesucht und an die verschiedenen Gefangenenlager geschickt. Die japanische Eisenbahnverwaltung unterstützte dies, indem sie die kostenlose Beförderung mittels Eilzügen übernahm. Um sechs Uhr abends, als wir alles fertig ausgeschmückt hatten, begann die Feier. Von unseren in Japan wohnenden Landsleuten wurden reichlich Geschenke gesandt. Ich erhielt ein Paar warme Schuhe, vier Äpfel, Nüsse, ein Paket Pfefferkuchen und eine Schachtel Zigaretten. Für jeden gaben es noch ein Los, und es hing vom Glück ab, was jeder gewann. In meinem Gewinn-Paket waren ein Paar Strümpfe und Schreibpapier. Was mich am meisten freute, waren die zwei Yen, die jeder erhielt. Oberstleutnant Kuhlo hielt eine Ansprache und unser Sängerchor sang einige Lieder. Somit hatte ich ein besseres Weihnachtsfest als erwartet. Jedem von uns war anzusehen, daß er zufrieden war.

  Am 25. Dezember war Gottesdienst. Nachmittags und abends waren wir lustig und guter Dinge. Ich hatte mich etwas abgesondert und ließ meine Gedanken zu den Lieben in der Heimat schweifen. Wir hatten Erlaubnis, bis zehn Uhr aufzubleiben.

  31. Dezember. Nach der üblichen Tagesroutine begann um sechs Uhr abends die Silvesterfeier. Zu Beginn sang der Chor das Lied: Des Jahres letzte Stunde ertönt mit ernstem Schlag. Oberstleutnant Kuhlo hielt dann einen Vortrag über den jetzigen Krieg. Da wir bis zehn Uhr aufbleiben durften, füllten wir die übrige Zeit mit Singen und Tanzen aus.

 

1915

 

  1. Januar. Oberstleutnant Kuhlo begrüßte uns mit einem Prosit Neujahr, Leute! und beendete seinen gestrigen Vortrag. Sonst war nichts Neues zu verzeichnen.

  7. Januar. Heute war der erste große Schneefall in Tokyo. Es wird jetzt immer kälter, was man hier in den leicht gebauten Häusern sehr empfindlich spürt. Wir haben in unseren Räumen einige Gasöfen, die aber nicht imstande sind, die hohen Räume zu durchwärmen. Abends Vortrag, Thema: Japanische Erziehung.

  12. Januar. Heute nichts Neues, außer Vortrag über Unterschied zwischen Schule und Kirche in Japan und Deutschland.

  14. Januar. Wir erhielten  Ansichtskarten, ein Geschenk des japanischen Kindergartens in Asakusa, einem nicht weit von unserem Lager entfernten Stadtteil Tokyos. Auch bekamen wir zu unserer Unterhaltung ein Grammophon.

  Am 15. Januar gab es für jeden sechzig Sen, ausgezahlt von den Japanern.

  19. Januar. Vortrag, Thema: Industrie und Textilbranche in Japan.

  23. Januar. Vortrag über japanischen Berg- und Hüttenbau, am 26. Januar über die Hausindustrie.

  27. Januar. Wir feierten Kaisers Geburtstag. Nach dem Gottesdienst hielt Oberstleutnant Kuhlo eine Ansprache, die mit einem dreifachen Hoch auf den Kaiser endete. Der Chor sang einige Lieder, mit denen die Feier ihren Abschluß fand. Nach dem Abendessen waren wir noch einige Stunden mit unseren Offizieren beisammen. Durch Gesang und Auftritt der Bremer Stadtmusikanten machten wir uns die paar Stunden so angenehm wie möglich. Der japanische Oberleutnant Habu brachte ebenfalls ein Hoch auf unseren Kaiser aus. Pro Mann bekamen wir heute dreißig Sen, eine Flasche Bier und Walnüsse. Von unserm Ingenieur erhielten wir Heizer dreißig Sen, einige Zigarren und Zigaretten und ein Stückchen Wurst.

  28. Januar. Heute wurde uns bekanntgemacht, daß das Reichsmarineamt für die Gefangenen in Japan 75000 Mark bewilligt hat. Jeder Mann soll 1,25 Yen pro Monat erhalten.

  29. Januar. Heute abend Fortsetzung des Vortrages über die japanische Hausindustrie. Am 2. Februar wurden mit den Themen Handel, Armee und Marine die Vorträge über Japan abgeschlossen.

  8. Februar. Die ersten Liebesgaben aus Deutschland sind angekommen. Auch erhielten wir Nachricht von unserem Kommandanten.

  Am 15. Februar bekam ich fünfzig Sen von einer Spende aus Tientsien. Am 19. Februar bestellte ich in Nagasaki für mein letztes Geld ein Wappen, um ein Andenken in die Heimat mitnehmen zu können. Am 26. Februar war der zweite große Schneefall.

 1. März. Heute zweite Löhnung aus den 75000 Mark, für jeden 1,20 Yen. Auch kamen Liebesgaben in Gestalt von Zigarren von unseren Landsleuten in Manila. Auf den Mann kamen 19 Stück; ein famoses Kraut.

  3. März. In aller Stille feierte ich heute meinen 24. Geburtstag. Zufälligerweise hatte ich das Glück, daß dieser Tag auf einen japanischen Feiertag fällt. Am 3. März eines jeden Jahres feiern sämtliche Mädchen Japans ihren Geburtstag gemeinsam. Für Knaben wird ein solcher Tag am 5. Mai gefeiert, bedeutend mehr als der für Mädchen.

  7. März. Heute, Sonntagvormittag, war Gettesdienst auf dem Hofe vor dem Tempel, abgehalten von einem deutschen Geistlichen aus Yokohama. Er war der erste Deutsche, der während unserer nun schon ein halbes Jahr dauernden Gefangenschaft zu uns kommen durfte. Eine Freude war es uns allen, in einem so fremden Lande nach so langer Zeit einen Landsmann sprechen zu hören, und es war eine schöne und ergreifende Predigt, die er hielt.

  Am 10. März traf nach langer Zeit die erste Post aus der Heimat für mich ein. Eine Karte von meinem Cousin, aus der ich ersehen konnte, daß er beim Roten Kreuz ist und in Frankreich im Felde steht.

  13. März. Wieder starker Schneefall. Am 15. März wurden uns aus Spenden zwei Yen pro Mann ausgezahlt.

  19. März. Heute erhielt ich von meinem Freunde Bruno v. Ellern einen Brief. Er schreibt, daß auch er jetzt zur Front eingezogen ist und in Rußland steht. Es freut mich, daß es ihm gutgeht. 20. März. Erhielt eine Karte aus Obergörzig.

  21. März. Freudig überrascht wurde ich durch einen Brief meines Freundes Willy Wendt. Auch er ist zur Reserve eingezogen worden. Seine lieben Zeilen gaben mir zu erkennen, daß es ihm in der letzten Zeit nicht besonders gut ergangen ist und daß er viel Kummer hatte. Zu allen Unglück kamen noch der Tod seiner Mutter und die Krankheit seiner jungen Frau. Armer Willy.

  30. März. Nach langer Zeit und bangem Warten erhielt ich heute die erste Nachricht von meinen Eltern, und zwar in Gestalt einer Postanweisung über 34 Franken = 13,37 Yen. Das Geld kam über die Schweiz (Bern), dort gestempelt am 15.2.15 und am 29.3.15 in Tokyo. Erstaunt darüber, daß ich von meinen Eltern noch keinen Brief erhalten habe, muß ich annehmen, daß die erste Post aus der Heimat verloren gegangen ist.

  Am 1. April habe ich die erste Hälfe meiner Dienstzeit überschritten und es geht jetzt bergab. Heute, am hundertsten Geburtstag Bismarks, wurde auch hier durch eine schlichte Gedenkfeier seiner gedacht. Oberstleutnant Kuhlo hielt einen Vortrag über die ruhmvolle Tätigkeit des Reichskanzlers. Am Nachmittag bekam jeder Mann einen Yen, eine Liebesgabe aus München. Zu meiner Freude erhielt ich am Abend einen Brief aus der Heimat von meinem Freunde Fr. H.. Auch wurde mir das Geld, das meine Eltern geschickt haben, ausgezahlt. Nun konnte ich sagen: Es ist ja keine Not, es ist ja alles da.

  4. April. Ostern! Ostern als Kriegsgefangener in Japan, traurige Ostern! Am ersten Feiertag war vormittags Gottesdienst, gehalten von einem Missionar. Nachmittags veranstaltete der Sängerchor ein Konzert. Was mich am meisten freute und was mich so sehr an unser liebes Osterfest in der Heimat erinnerte, waren die Ostereier, wirklich gefärbte Ostereier, die wir zum Frühstück und zum Abendbrot erhielten, fünf Stück pro Mann.

  Der zweite Ostertag verlief wie all die andern Tage, ruhig und ohne irgendwelche Anregung. Wie lange werden wir hier noch bleiben müssen? Werden wir Pfingsten oder sogar noch einmal das Weihnachtsfest hier im Fernen Osten und in dieser Abgeschiedenheit erleben müssen?

  9. April. Nach einem halben Jahr Anwesenheit in Japan erhielt ich heute den ersten Brief von meinen Eltern. Nach dem Inhalt desselben ist anzunehmen, daß die erste Post nach Japan und umgekehrt verlorengegangen ist. Am Vormittag wurde die Jaguar-Mannschaft von Herrn Leutnant Heimdal photographiert (Gruppenbild).

  10. April. Zu meiner Überraschung erhielt ich heute einen Postabschnitt über 11,36 Franken = 4,47 Yen aus der Heimat von Familie Kube. Das hätte ich mir nicht träumen lassen. Ja, es gibt noch gute Menschen auf der Welt. Hoffentlich komme ich bald in die Lage, mich erkenntlich zu zeigen.

  11. April. Heute vor einem Jahr starb die Keiserin-Witwe von Japan. Die japanischen Offiziere unseres Lagers hatten Galauniform angelegt. Wir wurden aufgefordert, uns ruhig zu verhalten. Das Spielen auf Instrumenten und Singen wurde untersagt. Na, auch wir haben dafür gesorgt, daß die Kaiserin-Witwe in ihrem Grabe nicht gestört wurde. Es war ein regnerischer Tag und wir haben uns alle unter unsere Decken aufs Ohr gelegt.

  14. April. Das von mir am 19.2. in Nagasaki bestellte Wappen kam heute an. Habe mich sehr gefreut über die saubere Arbeit und das schöne Aussehen desselben. Es ist ein herrliches Andenken.

  16. April. Einen schönen Spaß hatte ich heute abend, als ich eine Karte aus Tsingtau erhielt, welche folgenden Inhalt hat: Sehr geehrter Herr Kaul! Habe mich Ihres Hauses angenommen und an einen japanischen Arzt für 100 Yen pro Monat vermietet. Senden Sie mir bitte eine schriftliche Vollmacht, was ich mit dem Gelde machen soll. Soll ich das Geld aufbewahren oder soll ich es Ihnen zuschicken? Der Polizei-Chef Wetzel macht auch Zinsen geltend, die doch auch bezahlt werden müssen. Schreiben Sie mir bitte bescheid, was ich machen soll. Ihr Ferring.

  17. April. Heute wurde ich in der Gefangenschaft zum dritten Mal gewogen. Mein Gewicht beträgt 19,04.

  18. April. Heute hatte ich Gelegenheit, die Pracht japaniser Blumen zu bewundern. Diese und auch andere Gewächse waren im großen Buddha-Tempel ausgestellt, und die Japaner, von unserer Vorliebe für Blumen wohlunterrichtet, luden uns ein, die Ausstellung anzusehen. Auch erhielten wir auf Veranlassung von Herrn Oberstleutnant Saigo mehrere Blumentöpfe.

  24. April. Jeder von uns erhielt heute aus einer Spende von Siemens in New York 1,25 Yen.

  29. April. Von einem japanischen Stabarzt wurden heute unsere Augen untersucht. Auch erhielt ich einen Brief von meinen Eltern.

  1. Mai. Wegen eines geringfügigen Leidens mußte ich mich heute ins Revier begeben. Der Arzt stellte Hämorrhoiden fest. Am 5.Mai Löhnung von 1,25 Yen.

  9. Mai. Heute, Sonntag, war Gottesdienst, gehalten von Herrn Pastor Schröder aus Yokohama. Leider konnte ich nicht daran teilnehmen, weil ich im Revier bleiben muß.

  12. Mai. Wurde aus dem Revier als geheilt entlassen.

  14. Mai. Abends neuer Vortrag von Dr. Überschär, Thema: Allgemeines und Einleitung zum Deutschen Staat.

  17. Mai. Wir erhielten jeder 1,50 Yen aus einer Sammlung unserer Landsleute in München. 21. Mai. Vortrag: Das römische Kaiserreich, Verfall und Wiedererneuerung.

  23. Mai. Heute, am 1. Pfingstfeiertag, war Gottesdienst, gehalten von einem Missionar. Am Abend waren wir mit unseren Offizieren zusammen. Alle hatten ihr bestes getan, uns einige fröhliche Stunden zu bereiten. Gesänge des Chors wechselten mit Freiübungen der Turnergruppe und deren Pyramiden mit den Kraftleistungen einiger starker Männer vom Jaguar ab. Ein echter Berliner Junge sorgte für den nötigen Humor, so daß man aus dem Lachen nicht herauskam. Der zweite Feiertag verlief bedeutend ruhiger. Am Nachmittag war Gesang und Tanz. So hat man nun auch diese Feiertage im Auslande verleben müssen. Hoffentlich ist der Tag unserer Freilassung nicht mehr allzu fern.

  28. Mai. Am Abend folgte die Fortsetzung des Vortrags über den 1. Artikel der deutschen Verfassung.

  29. Mai. Heute erhielt ich einen Brief von Bertha, in dem sie mir mitteilte, daß Richard jetzt auch in Rußland steht.

  Am 30. Mai ein Brief von meinen Eltern. Am 31. Mai Löhnung und Geld aus einer Sammlung von Siemens und dem Reichsmarineamt. 1,20 Yen pro Mann.

  4. Juni. Zu meiner großen Überraschung erhielt ich heute einen Brief von Frl. Leibner. Am Abend Vortrag, Thema: Unterschied zwischen dem englischen und dem deutschen Staatsbegriff.

  6. Juni, Sonntag. Gottesdienst, gehalten von Herrn Pastor Schröder aus Yokohama. 11. Juni. Am Abend Vortrag, Thema: Macht des Regenten und Majestätsrechte. Sonst nichts Neues.

  14. Juni. Große Freude bereiteten mir heute die Geschenke, die von unseren Landsleuten aus Manila hier eintrafen. Es waren Zigarren, ein famoses Kraut. Jeder Mann erhielt zwanzig Stück. Ich habe dafür einen Dankbrief an den Vorsitzenden des Deutschen Flottenvereins gesandt, der in Manila seinen Sitz hat. Einer der beiden japanischen Oberleutnants, die bei uns im Lager sind, kehrte heute zu seinem Regiment zurück und wurde durch einen anderen ersetzt.

  15. Juni. Heute war Löhnung, 1,50 Yen pro Mann.

  18. Juni. Heute wurde gemeldet, daß ein deutsches Unterseeboot einen japanischen Kreuzer torpediert hat. Am Nachmittag war wieder ärztliche Untersuchung, mein Gewicht diesmal 18,18. Ich habe somit während meines Aufenthaltes in Japan neun Pfund abgenommen. Am Abend wurden aus Shanghai hier eingetroffene Liebesgaben verteilt, bestimmt für die Besatzung des Jaguar. Jeder erhielt ein Hemd, drei Taschentücher, ein Handtuch, ein Paar Strümpfe und die Raucher eine Shagpfeife. Abends Vortrag: Majestätsrechte, Erbfolge und Landtag.

  25. Juni. Wieder kam Geld für uns von Siemens New York und vom Reichsmarineamt; jeder erhielt 1,20 Yen.

  7. Juli. Erhielt einen Brief von meinen Eltern. Keine besonderen Neuigkeiten. 14. Juli. Heute erhielt ich den ersten Brief von meinem Cousin Heinrich, aus dem ich ersehen konnte, daß auch von ihm Post an mich verloren gegangen ist.

  15. Juli. Am Nachmittag Bekanntmachung durch Oberstleutnant Saigo betreffs künstlicher Glieder und Augen.

  18. Juli. Wegen der großen Floh- und Moskitoplage, die hier während der heißen Jahreszeit herrscht, war heute im Lager eine intensive Reinigung.

  19. Juli. Heute erhielt ich eine Karte von einem Kameraden von S.M.S. Kormoran aus Guam, U.S.A., wo er interniert ist. 24. Juli. Heute Löhnung, 1,20 Yen.

  1. August. Mit dem heutigen Tage ist ein Jahr verflossen, seit Deutschland mit seinen Feinden im Kriege steht. Die Meldung, daß Warschau eingenommen wurde, hat in unserem Lager große Freude ausgelöst und wurde gebührend gefeiert.

  10. August. Gegen sieben Uhr am Morgen war hier eine Sonnenfinsternis zu sehen. Am 11. August wieder ein Brief von meinen Eltern und am 16. August ärztliche Untersuchung. Gewicht: 18,30.

  21. August. Endlich nach langem Warten erhielt ich heute ein Paket, das bereits am 12.4. in Neukölln abgeschickt war. Sämtliche Sachen waren gut erhalten und werden mir hoffentlich gut munden.

  26. August. Ein sehr interessanter technischer Vortrag unseres Oberingenieurs über die Dieselmaschine wurde heute begonnen. Der Vortrag war anfangs nur für Unteroffiziere bestimmt, doch konnten dann auch Mannschaften, die in der Praxis schon mit Maschinen gearbeitet haben, dabei sein.

  3. September. Heute wurde bekanntgegeben, daß wir am 6. September in ein neues Lager übersiedeln. Daraufhin großes Packen unserer wenigen Habseligkeiten.

  4. September. Während des ganzen Tages Klarmachen zum Umzug.

  6. September. Verladen des Gepäcks. 7. September. Früh am Morgen um 2:30 Uhr war Wecken. In aller Ruhe machte ich Toilette, denn nach der uns bekannten japanischen Umständlichkeit war an einen Abmarsch noch nicht zu denken. Endlich um 4:20 Uhr war Antreten auf dem kleinen Hof vor dem Tempel, dann Abmarsch zum Bahnhof, eine Strecke von etwa einer halben Stunde. Wegen der frühen Morgenstunde und der Geheimhaltung unserer Abfahrt wurden wir auf den Straßen nicht behelligt. Trotzdem mußte es einigen Photographen bekannt gewesen sein, denn vor und auf dem Bahnhof wurden wir verschiedentlich photographiert. Nach Einteilung auf die Wagen und Einsteigen war kurz darauf Abfahrt. Da wir uns um die Beförderung unseres Gepäcks nicht zu kümmern brauchten, hatte ich nur zwei große Blumentöpfe bei mir, die mir Oberstleutnant Kuhlo geschenkt hatte und die ich nun notgedrungen mitnehmen mußte. Ebenso die Kaninchen und unsere Luftflotte* wurden mitgenommen. Einige Kameraden teilten sich diese Arbeit mit mir. Die Eisenbahnfahrt dauerte eine Stunde. Ich fühlte mich ordentlich frei, wieder einmal ein größeres Stück Himmel zu sehen. Die Fahrt ging vorbei an Reis- und Lotusblumenfeldern, Dörfern und kleinen Ortschaften. Von einer Stelle aus konnte ich sogar ein Stück vom Meer sehen, und so wurde der Wunsch nach Freiheit immer größer. Von Kinshicho, wo wir abfuhren, ging die Fahrt über Kameida, Hirai, Koiwa, Funabashi nach Tsudanuma, unserer Endstation. Vor dem Stationsgebäude des kleinen Ortes, es war früh um 6:30 Uhr, Antreten und Marsch zum neuen Lager, auf anfangs guten, dann fast grundlosen Wegen. Es gab Erlaubnis zum Singen, wovon wir auch gleich Gebrauch machten, und mit Gesang ging es durch einige Dörfer, deren Bewohner neugierig an der Straße standen, waren sie es doch wohl nicht gewohnt, daß Soldaten singen, denn beim japanischen Militär gibt es so was nicht. Nach einer Stunde erreichten wir unser Ziel, Narashino, auf der Chiba-Halbinsel. Unser Quartier sind vier große Baracken, wie wir sie auch in Deutschland auf den Truppenübungsplätzen haben. Die Vorteile hier sind, daß man zu jeder Zeit aus der Baracke herausgehen kann, daß hier herrliche frische Luft und viel mehr Platz ist mit Rasen, andererseits wir aber noch mehr von der Welt abgeschnitten sind als in Tokyo. Wir erhielten hier Matratzen und hatten unsere Decken mitnehmen können. Auch gesundheitlich sind wir hier sehr im Vorteil. Wenn ich einen Dienst habe, mache ich nach dem Frühstück einige Freiübungen oder einen Spaziergang. Das Frühstück besteht auch hier aus Brot, Tee und einem Ei. Danach wird gearbeitet, geistig, oder geschnitzt und dergleichen. Einen Mittagsschlaf von einer Stunde halte ich nach dem Essen. Dann wieder Arbeit und nach dem Abendessen folgt ein Spaziergang oder allerlei Kurzweil. So ist auch hier ein Tag gleich dem anderen im ewigen Einerlei, und das Hoffen auf baldigen Frieden bleibt unser Trost.

      *Luftflotte: Vermutlich Ziervögel

  11. September. Ein japanischer General besichtigte heute das Lager. 12. September. Am Vormittag Gottesdienst mit Herrn Pastor Schröder. Ich erhielt die erste Nachricht aus Wilster, eine Karte mit Photographie.

  19. September. Zu meiner Freude erhielt ich heute aus der Heimat einige Zeitungen, Fürstenwalder und Berliner.

  21. September. Meine Schwester schickte einige Zeitungen aus Berlin, große Freude. Es ist dies während meines Aufenthaltes in Ostasien das erste Lebenszeichen von ihr.

  26. September. Fortsetzung des Vortrages von Herrn Dr. Überschär über den deutschen Staat. 30. September. Erhielt eine Karte von meiner Schwester, außerdem Berliner Zeitungen. Auch mein alter Freund Karl gedachte meiner durch eine Karte. 2. Oktober. Nach langer Zeit erhielt ich heute von meinen Eltern einen Brief, der am 18.6. abgeschickt war. 3. Oktober. Erhielt einen Feldpostbrief von Bertha mit sechs Zigarren, die leider alle entzwei waren. Ich konnte sie aber trotzdem gebrauchen. Auch kam von meiner Schwester die zweite Sendung Zeitungen an.

  7. Oktober. Zu meiner großen Freude traf ein Paket von meinen Eltern ein mit dem seit langem bestellten Tabak. Hoffentlich brauche ich auf eine zweite Sendung nicht allzu lange zu warten.

  8. Oktober. An einem stürmischen Tag hatte ich heute die seltene Gelegenheit, den Fujiyama im Glanze der untergehenden Sonne besonders klar zu sehen.

  13. Oktober. Freudig überrascht wurde ich heute durch ein kleines Paket von Bertha mit 20 Zigaretten. Hoffentlich kann ich mich für dir vielen Gaben bald und reichlich revanchieren.

  14. Oktober. Aus Wilster erhielt ich heute eine kleine Unterstützung von 3,58 Yen (10,75 Franken). Jeden Tag etwas, gestern 20 Zigaretten, heute Geld. Ja, wenn die Not am größten, ist die Hilfe am nächsten. Man kann also gar nicht untergehen.

  19. Oktober. Am Vormittag war ärztliche Untersuchung auf Gewicht und Zähne. Mein Gewicht: 18,61. Heute begann ich mit dem Unterricht in Geometrie bei Oberleutnant z. S. Oehler.

  24. Oktober. Fortsetzung des Vortrags des Herrn Dr. Überschär über den deutschen Staatsbegriff.

  26. Oktober. Gottesdienst mit Herrn Pastor Schröder aus Yokohama. Vortrag des Oberingenieurs über Dampfturbinen.

  31. Oktober. Beendigung des Vortrags über den deutschen Staatsbegriff; Übergang zum japanischen Staatsbegriff. Geburtstag des Kaisers von Japan. Obst zu den Mahlzeiten und Zucker.

  10. November. Krönungsfeier des Kaisers von Japan. Besseres Essen. Sonderbare Zeremonien der Wache. Das bestellte Buch aus der Heimat eingetroffen.

  12. November. Nachts starkes Erdbeben. Weitere leichte Erdbeben im Laufe des Tages. In Japan gibt es ca. 150 Erdbeben im Jahr.

  14. November. Einen interessanten Tag erlebte ich heute durch die Veranstaltung eines Sportfestes. Es gab einen 1560-Meter-Lauf, Schleuderball, Steinstoßen, Diskuswerfen, 500-Meter-Lauf, Faustball, Weitsprung, Hochsprung, Stabhochsprung, 100-Meter-Lauf, Wettlauf mit Eiern, Stafette, Fußball, Tauziehen, Kartoffelwettlauf und Hindernislaufen mit darauffolgender Preisverteilung. Es entfielen auf Jagar und Marinekompanie sechs erste, vier zweite Preise und ein dritter Preis. Die Preise waren den Verhältnissen entsprechend. Mit einem Hoch auf unseren Kaiser wurde die Veranstaltung beendet.

  15. November. Heute war Löhnung, 1,30 Yen pro Mann. Nach langer Zeit kam ein Brief aus der Heimat (von den Eltern). 16. November. Starke Erdstöße während des ganzen Tages. 21. November. Heute Totensonntag mit Gettesdienst.

  30. November. Ausgabe von Winter-Unterzeug. Von den Deutschen in Kobe erhielt jeder ein Päckchen und zwei Paar Strümpfe. Vormittags war Gottedienst mit Pfarrer Schröder. 2. Dezember. Karte von den Eltern erhalten, abgesandt am 2.11., tags zuvor eine Karte, die bereits am 22.10. abgeschickt worden war.

  3. Dezember. Habe heute einen Bilderrahmen in Arbeit genommen, der unserem Oberingenieur zum Weihnachtsfest geschickt worden soll. Die Anfertigung wurde mir von den Unteroffizieren des Jaguar übertragen. Auch andere Vorbereitungen für das Weihnachtsfest haben begonnen. 4. Dezember. Eine Karte von den Eltern erhalten, abgeschickt am 25.9.

  11. Dezember. Von meiner Schwester abgesandtes Weihnachtspaket mit großer Freude erhalten.

  17. Dezember. Ärztliche Untersuchung. Gewicht 18,28. Vortrag: Japanische Erziehung. 21. Dezember. Löhnung, pro Mann 1,15 Yen. Bilderrahmen für den Oberingenieur fertiggestellt.

  23. Dezember. Vorbereitungen für das Weihnachtsfest. Großes Schweineschlachten und Wurstmachen.

  24. Dezember. Heiligabend. Meine Hoffnungen, daß ich diese Weihnachten in der Heimat verleben würde, haben sich nicht erfüllt. Ich bin wie viele andere dazu verurteilt, unser schönstes Fest in weiter Ferne zu verleben. Hoffentlich ist das nächste Jahr das Friedensjahr. Die erste Freude, die mir heute zuteil wurde, war ein Brief von Bertha. Abends war Gottesdienst mit darauffolgender Bescherung. Auch der liebe Weihnachtsmann fehlte nicht. Die im ganzen Lager herrschende niedergedrückte Stimmung versuchten unsere Offiziere durch fröhliche Gesichter und Witze zu vertreiben. Nach der Bescherung war Verlosung, bei der jeder etwas gewann. Wir hatten von den Japanern bis elfeinviertel Uhr frei bekommen und konnten uns bis dahin unserer Feier hingaben. Nach und nach kam mehr Stimmung unter uns auf, besser gesagt Galgenhumor. Dann ging es in die Kojen. Mit Gedanken in Richtung Heimat schlief ich ein.

  25. Dezember. Nach gut verbrachter Nacht und dem Frühstück gruppierten wir uns um den Ofen zu einem Frühschoppen. Von kleinen Ersparnissen, die fast jeder hatte, konnte man sich ein paar Flaschen Bier leisten. So verbrachten wir den Vormittag. Mittags war Gottesdienst, am Nachmittag ein Konzert unter Mitwirkung von Offizieren und Mannschaften auf einem Klavier und zum Teil selbst gebauten Geigen. Mit meinen engsten Kameraden war später ein gemütlicher Kaffeeklatsch, wozu natürlich jeder den Kuchen seines Heimatpaketes hergeben mußte. Unter lustigen Witzen und vorgetragenen Couplets blieben wir bis acht Uhr beisammen.

  26. Dezember. Heute leistete ich mir ein gutes zweites Frühstück aus dem Weihnachtspaket. Ein Brief von Onkel Karl kam an. Den 31. Dezember verlebte ich ziemlich zurückgezogen. Trotzdem wir bis eine halbe Stunde nach Mitternacht freihatten, legte ich mich schon früh schlafen.

 

1916

 

1.Januar. Am Nachmittag gab der Chor, dem auch ich angehöre, ein Konzert. 5. Januar. Nach langer Zeit zwei Briefe von den Eltern. 6. Januar. Einen Brief von Bruno erhalten; es freut mich, daß er gesund und noch unter den Lebenden ist.

  8. Januar. Vortrag: Die Schulen Japans. 12. Januar. Zweites Paket mit Tabak von Bertha, abgeschickt am 6.12. Nach langer Zeit wieder eine Sendung Fürstenwalder Zeitungen vom 12.12.15.

  14. Januar. Vortrag: Japans Stellung im Weltkrieg. Über Okuma, den Botschafter in England, und Takato, dessen Schüler.

  17. Januar. Plötzliche Untersuchung des ganzen Lagers auf Zivilzeug. 21. Januar. Vortrag: Der seelische Unterschied zwischen Deutschen und Japanern.

  22. Januar. Groß war heute meine Freude, als ich einen Brief von meiner Schwester erhielt, ein paar liebe Zeilen, wie ich sie lange nicht erhalten habe. Auch kam ein Brief von meinen Eltern, aus dem ich ersehen konnte, daß noch einige Pakete für mich unterwegs sind.

  27. Januar. Kaiser-Geburtstagsfeier. Am Vormittag Gottesdienst. Ansprache von Oberstleutnant Kuhlo. Vortrag des Gesangvereins. Fünfzig Sen vom Oberingenieur. Außerdem für die Allgemeinheit pro Kopf zwanzig Sen und zwei Flaschen Bier.

  29. Januar. Erhielt heute drei Briefe, einen von meinen Eltern und nach langer Zeit auch eine Nachricht von Frau Wendt, wodurch ich die genaue Adresse von Willy erhielt. Frau Schmidtke sandte mir Grüße von Bruno.

  7. Februar. Erster Schneefall während des ganzen Tages. Ganz unverhofft erhielt ich ein Paket von Familie Kube und die Fürstenwalder Zeitung. Ein Freudentag.

  11. Februar. Vortrag: Der Unterschied zwischen Deutschen und Japanern. Der Tag, an dem nach alter japanischer Überlieferung der erste Kaiser vom Himmel gestiegen sein soll.

  14. Februar. Das ersehnte Weihnachtspaket von den Eltern erhalten. 21. Februar. Zweiter großer Schneefall.

  23. Februar. Vortrag des Oberingenieurs über Explosionsmotoren. 24. Februar. Spende aus Tientsien angekommen: Pro Kopf 1,31 Yen. 25. Februar. Besichtigung des Lagers durch drei Damen vom amerikanischen Roten Kreuz.

  2. März. Vortrag: Die Ernährung der Japaner im Vergleich mit den Deutschen. Nach einer Statistik von 1911 ist der durchschnittliche Tagesverdienst eines japanischen Arbeiters 60 Sen, 20 Sen davon, das ist ein Drittel, für Ernährung. Durchschnittslohn eines deutschen Arbeiters pro Tag (Metallarbeiter und Maurer) 3,60 bis 4,00 Mark, davon 90 Pfennig für Ernährung, also ein Viertel.

  6. März. Brief von Bruno erhalten. 8. März. Plötzlich erkrankt. Unterleibserkältung. 11. März. Heute aus dem Revier entlassen.

  13. März. Als Mitglied des Gesangvereins wurde ich eingeladen zum Geburtstag des Hauptmanns v. Welutzky.

  15. März. Besichtigung des Lagers durch zwei Mitglieder der amerikanischen Gesandtschaft in Tokyo.

  26. März. Gottesdienst, gehalten von einem Schweizer Pfarrer. 30. März. Eine Karte an Frl. Leibner und einen Brief an Bertha abgeschickt. 31. März. Seit längerer Zeit kam heute wieder eine Sendung mit Fürstenwalder Zeitungen an.

  Vortrag: Japanische Verfassung.

  5. April. Löhnung 1,30 Yen für gänzlich Unbemittelte. 7. April. Vortrag über Japans Entwicklung. 22. April. 40 Sen vom Oberstleutnant.

  23. April. Ostern! Wieder bin ich gezwungen, ein so schönes Fest in der Gefangenschaft zu verleben, und wer weiß, wieviel ihrer noch in meiner jetzigen Lage folgen werden. Wann wird der Friede kommen? Die lange Zeit der Gefangenschaft hat uns schon gelehrt, die Feiertage, unserer Lage entsprechend, selber so schön wie möglich zu gestalten. Das geschah auch heute. Gottesdienst am Vormittag, abends Konzert des Chores unter Mitwirkung der Offiziere. Auch Oberstleutnant Kuhlo beteiligte sich daran. Wir hatten uns dadurch ein paar schöne Stunden verschafft und fühlten uns durch Singen vertrauter Lieder in unsere Heimat versetzt. Befriedigt und mit neuen Hoffnungen ging es dann zu Bett.

  27. April. Geburtstag des Oberstleutnants Kuhlo, zu dem auch der Chor am Abend eingeladen wurde. Unter Gesang und Vertilgung der gestifteten siebzig Liter Bier hatten wir auch diesen Abend so angenehm wie möglich verlebt.

  5. Mai. Vortrag des Oberstleutnant über den Russisch-Japanischen Krieg. 14. Mai. Veranstaltung eines zweiten Sportfestes. 17. Mai. Der japanische Stabarzt wird abgelöst.

  25. Mai. Heute abend hatte ich Gelegenheit, einen selten schönen Sonnenuntergang zu beobachten.

  5. Juni. Heute hatte ich eine ernste Mission zu erfüllen. Es galt, einem Kameraden der Marine-Kompanie, der im Lazarett an Lungentuberkolose verstorben war, die letzte Ehre zu erweisen. Die Japaner hatten erlaubt, daß jeder, der will, sich an der Trauerfeier beteiligen kann. Die Beerdigung fand auf dem Militärfriedhof bei Narashino statt. Die Grabrede hielten die beiden Missionare unseres Lagers. Der Chor sang die Lieder Auferstehn und Ich hatt' einen Kameraden. Von den japanischen Offizieren nahmen Oberstleutnant Saigo, Oberleutnant Harata und der Stabarzt teil.

  11. Juni. Erster Pfingstfeiertag. Auch in diesem Jahr bin ich gezwungen, dieses Fest in der Gefangenscahft zu verbringen. Am Vormittag war Gottesdienst und am Abend gemühtliches Beisammensein zwischen den Baraken. Für die Unterhaltung sorgte eine Kapelle, bestehend aus Cello, zwei Geigen und Bandonion. Auch der Chor beteiligte sich. Leider war ich nicht in der Lage, mir eine Flasche Bier zu leisten, weil dies meine Finanzen nicht zuließen. Der zweite Feiertag verlief wie all die anderen Tage ohne nennenswerte Unterbrechung.

  13. Juni. Heute habe ich einen Wandteller abgeliefert, den ich auf Bestellung für Oberleutnant Löffler als dessen Geschenk nach Yokohama anfertigte.

  17. Juni. Ärztliche Untersuchung, mein Gewicht 18,80. Vortrag von Oberleutnant Löffler über die Seeschlachten im Russisch-Japanischen Krieg.

  7. Juli. Große Freude bereiteten mir heute zwei Feldpostpakete mit Zigaretten und Tabak, in denen ich auch ein Bild von Else fand. 24. Juli. Brief an Eltern abgeschickt. Das lang erwartete Paket vom 13. Januar erhalten. 8. August. Paket von Frau Kube erhalten. Leider nur noch zwei Büchsen Ölsardinen zu genießen. Ein Erdbeben, ziemlich stark, mehrere Sekunden Dauer.

  16. August. Ärztliche Untersuchung, mein Gewicht 17,79. Rapide Gewichtsabnahme durch ruhrartigen Durchfall.

  20. September. Ärztliche Untersuchung. Gewicht 18,99.

  25. September. Löhnung 1,30 Yen.

  11. Oktober. Brief von Eltern erhalten. Laut Bestimmung der Japaner darf jeder Mann pro Monat nur einen Brief und eine Karte abschicken. Briefpapier und Karten werden von den Japanern gestempelt geliefert.

  21. Oktober. Heute fanden turnerische Übungen statt, veranstaltet vom Turnverein, der sich hier gebildet hat.

  22. Oktober. Eintreffen von 73 Mann aus der Lager von Fukuoka. Unser Lager hat jetzt ungefähr 500 Mann. Mit Erlaubnis der Japaner können wir jetzt Weihnachtskarten schicken. Da dies aber mit einer mir widerstrebenden Bedingung verknüpft ist, verzichte ich lieber darauf.

  26. Oktober. Löhnung, pro Mann 1,30 Yen.

  1. November. Ein Sohn des japanischen Kaisers zum Kronprinzen proklamiert.

  1. Dezember. In letzter Zeit ist mir aufgefallen, daß die Japaner gegenüber den Gefangenen strengere Maßnahmen anwenden, z.B. die sofortige Bestrafung mit Arrest bei den geringfügigsten Anlässen. Unsere Offiziere müssen jetzt zur selben Zeit aufstehen wie die Mannschaften; auch dürfen sie die Mannschaftsräume nicht mehr betreten und Zeitungsnachrichten nicht mehr vorlesen. Und nun das Essen. Trotzdem 73 Mann vom Lager Fukuoka hierher gekommen sind, gibt es nicht mehr Fleisch als vorher. Das einzige, was es reichlich gibt, sind Kartoffeln. Das Fleisch ist im Sommer fast nie zu genießen, weil es schon riecht, wenn es hier ankommt. Auch ist es meistens fettes Fleisch, das niemand essen kann. Es ist vorgekommen, daß gelieferte Leber so verdorben war, daß sie sofort vergraben werden mußte. Das Mittagsessen besteht meist aus Kartoffeln oder Reis mit Gulasch. Das Fleisch ist aber auf dem Teller selten zu finden. Die Portionen sind oft erschreckend klein. Das Abendessen soll aus Gemüse wie Kohl, schwarzen Erbsen, Saubohnen, Mohrrüben und Wachsbohnen bestehen. Seine Bestandteile sind aber fast nur Wasser, viel Zwiebeln und einige Kartoffeln. Das Gemüse kommt jetzt in so kleinen Quantitäten, daß man es beim besten Willen nicht finden kann. Das Fleisch erscheint in einigen Fettbrocken, die man, falls man sie auf dem Teller sieht, lieber gleich entfernt. Augenblicklich ist das Essen nach Qualität und Quantität so, daß man sich damit am Leben erhalten kann. Je länger wir hier sind, desto schlechter ist die Behandlung geworden.

  3. Dezember. Ein Feldpostpaket vom 19.9. von Else erhalten. Inhalt: ein Buch, drei Päckchen Tabak und ein Bild.

  18. Dezember. Von Bertha ein Feldpostpaket mit fünfzig Zigaretten erhalten, abgeschickt am 2.11.

  20. Dezember. Empfang der Gitarren-Schule.

  21. Dezember. Ärztliche Untersuchung. Gewicht 18,78.

  28. Dezember. Weihnachten ist vorüber, das dritte dieses schönen Festes war ich gezwungen, in Gefangenschaft zu verleben. Trotz der reichlichen Gaben an Geld und Sachen von unseren Landsleuten aus der Heimat, aus China, Japan und Amerika ist es doch sehr trostlos, das Fest nicht im Kreise seiner Lieben im Heimatland feiern zu dürfen. Doch die Macht der Gewohnheit ist groß, und wir haben uns schon lange daran gewöhnen müssen, ohne die vertrauten heimatlichen Genüsse auszukommen. Ich kann nur hoffen, daß dies die letzten Weihnachten gewesen sind, die ich ohne Heimatland und Elternhaus verlebte. Schön wäre es gewesen, wenn ich wenigstens einen Brief oder eine Karte erhalten hätte, aber nichts von dem. Hoffentlich kommt es noch.

  30. Dezember. Nach langer Zeit erhielt ich heute eine Karte aus Obergörzig, aus der ich ersah, daß meine Eltern dort sind.

 

1917

 

2.Januar. Das alte Jahr ist vorüber. Mit mehr Hoffnungen als vor Jahresfrist trete ich in das neue Jahr. Friedensgerüchte und leise Friedensklänge kommen hierher in unsere Einsamkeit, und es ist wohl auzunehmen, daß das neue Jahr das Friedensjahr sein wird. Es ist auch an der Zeit, daß das große Ringen und das Leben in der Gefangenschaft ein Ende nehmen.

  25. Januar. Ein Paket von Frau Kube mit Tabak und zwölf Zigarren erhalten.

  9. Februar. Ein Paket von Frau Kube erhalten. Inhalt Kekse, Schokolade und Ölsardienen. 19. Februar. Brief von Eltern erhalten. 24. Februar. Ein Paket von Heinrich erhalten, abgeschickt am 8.10.16, Kuchen, 35 Zigarren, 25 Zigaretten, eine Dose Heringe, Ölsardinen und ein Päckchen Tabak.

  3. März. Heute verlebte ich in aller Stille meinen 26. Geburtstag.

  8. April. Öde Ostern! Das einzige Interessante war ein Konzert, veranstaltet von Offizieren und vom Gesangverein.

  11. April. Eine einmalige Löhnung in Höhe von 15,3 Yen wurde ausgezahlt (voraussichtlich zurückzuzahlen nach dem Kriege).

  17. Mai. Zu meiner Überraschung erhielt ich heute einen Brief von Frl. L. Poetschke.

  27. Mai. Verlauf der Pfingstfeiertage wie gewöhnlich. Einzige Abwechslung war die Aufführung zweier kleiner Theaterstücke, welche sehr nett gespielt wurden. Sonst waren Eintönigkeit und Stumpfsinn stark vertreten.

  10. Juni. Für Oberleutnant Fliegelskamp einen Kasten angefertigt, der drei Yen einbrachte.

  10. Juli. Angenblicklich herrschen Zustände in unserem Lager, die zu berechtigten Klagen Anlaß geben. Ganz besonders schlecht ist es mit dem Essen. Es sollte zum Beispiel Salzfleisch verarbeitet werden, daß bereits stark roch und teilweise von Maden wimmelte. Trotzdem erklärte der Stabsarzt, daß das Fleisch zwar nicht mehr ganz gut sei, aber noch gegessen werden kann. Die Köche verweigerten das Kochen des Fleisches, und die Folge war, daß der Kochmaat in Arrest gesteckt wurde. Auch gab es einige Male stinkenden Fisch, der natürlich von niemandem abgeholt wurde. Auffällig ist, daß jedes kleine Vergehen mit Arrest bestraft wird. Beispiel: Eine kleine Verspätung beim Morgenappell mit fünf Tagen.

  19. September. Heute erhielt ich ein kleines Paket von Frau Eva Schramm aus Yokohama; eine Mettwurst und zwei Halbpfund-Büchsen Leberwurst.

  1. Oktober. Vergangene Nacht erlebte ich einen Sturm wie noch nie vorher in meinem Leben. Nur einem glücklichen Zufall hatten wir es zu verdanken, daß unsere Baracken nicht einstürzten oder gar von der Erdoberfläche verschwanden. Es war gegen vier Uhr morgens, als ich plötztlich durch Stimmengewirr aufwachte. Zu meinem Erstaunen waren die meisten meiner Kameraden schon auf und legten ihre Kojen in einer Ecke des Raumes aufeinander. Nach dem Grund ihres frühen Aufstehens brauchte ich nicht zu fragen, denn ein unheimlich heulender Sturm und prasselnder Regen gaben mir genügend Aufschluß. Ich also raus aus der Koje. Überall regnete es durch und bei jedem Windstoß zitterte und krachte die Baracke, als ob sie jeden Augenblick zusammenstürzen wollte. Zum Glück geschah aber nichts dergleichen. Als es hell wurde und ich hinausging, bot sich mir ein trauriger Anblick. Die Gebäude innerhalb des Lagers waren zwar nur wenig beschädigt, abgesehen von einigen Blechkappen und -platten von den Dächern. Aber desto trauriger sah es in unserem und im Offiziersgarten und außerhalb des Lagers aus. Von den Gärten, die tags zuvor noch in voller Blüte standen, war nichts mehr zu sehen. Die Lauben waren entweder Trümmerhaufen oder ganz verschwunden. Die Schilderhäuser unserer japanischen Posten lagen als Trümmer weit verstreut umher oder waren plattgedrückt an den Zaun geworfen. Die dicht hinter unserem Lager gestandenen Baracken (Stallungen für Militärpferde) waren vollständig eingestürzt. Von den etwas weiter gelegenen Militärbaracken waren die meisten Dächer abgerissen oder abgedeckt. Das Haus eines Bauern, das dicht hinter dem unser Lager umgebenden doppelten Drahtzaun stand, war zertrümmert und hatte fast die ganze Familie vernichtet. Teile des Hauses und der Inneneinrichtung lagen auf unserem Platz. Auch die elektrischen Leitungen sind zerstört, und wir sind gezwungen, unsere an und für sich schon eintönigen Abende beim Talglicht zuzubringen. Dies sind die Schäden, die ich, soweit mein kleiner Horizont es hier zuließ, selbst beobachtet habe. Viel größer sind die Schäden, die ich aus der Zeitung (Japan Advertiser) herauslesen konnte. Bis heute abend waren gemeldet: 150000 Obdachlose allein in Tokyo, 16000 untergegangene Fischerboote, 53 zerstörte Schulen auf der Chiba-Halbinsel. Schaden bei der Reisernte und bei anderen landwirtschaftlichen Produkten: sechs Millionen Yen. Eine Insel mit dreihundert Bewohnern verschwand spurlos in der See. Sechs Walfische wurden an Land getrieben. An der Küste strandete ein größerer Handelsdampfer. Der Taifun war schon einige Tage vorher angekündigt worden und hatte sein Zentrum 60 Kilometer nach See hinaus. Am meisten in Mitleidenschaft gezogen war das Land zwischen Tokyo und Narashino. Wir hatten das Glück, nur die Ausläufer des Taifuns zu spüren bekommen zu haben.

  2. Oktober. Von schönstem Wetter begünstigt fand heute das alljährliche Turnerfest statt, bei dem sehr gute Leistungen gezeigt wurden. Es gab volkstümliches Turnen und Geräteturnen mit anschließendem Schauturnen und Pyramiden.

  31. Oktober. Heute abend fand eine kleine Feier statt zur 400-jährigen Wiederkehr des Reformationstages mit einem hochinteressanten Vortrag des Dr. phil. Überschär über die Entwicklung des deutschen Volkes seit seinem Eintritt in die vor 400 Jahren begonnene Neuzeit. Ein neu gebildetes Streichorchester, bestehend aus dreißig Mann, und der Chor wirkten bei der Feier mit.

  18. November. Die Unzulänglichkeit des Essens ist es, die mir schon wieder die Feder in die Hand drückt, um darüber einige Notizen zu machen. Ganz besonders schlecht ist das Abendessen, das aus Kartoffeln und Gemüse mit Fleisch bestehen soll und früher auch daraus bestanden hat. Jetzt ist das Essen so minderwertig, daß man oft nicht feststellen kann, was für einen Stoff man eigentlich zu sich nimmt. Es sind 85 Prozent Wasser, fünf Prozent Mehl, zwei Prozent Kartoffeln, zwei Prozent Fleisch, fünf Prozent Gemüse und ein Prozent Gewürz. Auf 485 Mann kommen fünfzehn Pfund Erbsen oder Bohnen oder Kohl. Das Mittagsessen ist viel schlechter als früher. Fleisch in der Größe und Stärke eines Fünf-Mark-Stücks für eine Portion ist keine Seltenheit, dazu drei bis fünf Stücke Kartoffeln. Es ist gerade so viel, daß man sich am Leben erhält.

  20. November. Zur Verbesserung des Essens erhalten wir jetzt eine kleine Zulage an Gemüse, Kartoffeln und Rüben von Herrn Drenkhahn. Viel gebessert ist dadurch nicht, denn was wir an Zulage bekommen, zieht der Japaner wieder ab. Beschwerden an höherer Stelle sind zwecklos. Trotz dieser Zustände werden von Leuten, die hier monatlich ihr Gehalt haben, Berichte nach Deutschland geschickt, in denen zu lesen ist, daß es uns sehr gut geht und daß nur der Dung für den Garten fehlt.

  22. November. Seit dem 27. Juni erhielt ich heute den ersten Brief von meinen Eltern. 24. November. Von Frau Schramm aus Yokohama heute ein Paket mit zwei Würsten.

  22. Dezember. Einen Brief von Familie Schramm aus Yokohama erhalten.

  25. Dezember. Heute war ein wahrer Glückstag für mich, denn ich erhielt erstens zwei Pakete aus Yokohama, eines von Familie Schramm und eines von Familie Pohl. Außerdem eine Wurst von Frau Altschüler aus Yokohama. Was mich ganz besonders freute, waren die Geldsendung aus der Heimat und ein Brief von meinem Freunde Bruno.

  27, Dezember. Das Weihnachtsfest verlief wie gewöhnlich. Der Reihe nach waren Gottesdienst, Bescherung und allgemeine Feier bis nachts zwölf Uhr.

 

1918

 

2. Januar. Auch das Neujahrsfest verlief in gewohnter Weise. Durch den Empfang des Geldes war ich in der Lage, mir den Silvester-Abend so gemütlich wie möglich zu machen. Na, hoffentlich war es das letzte Neujahrsfest, das ich in diesem Lande verlebt habe

 8. Januar. Brief nach Yokohama an Familie Schramm und an Frau Pohl. 11. März. Einen Brief von Herrn Schuffner aus Yokohama erhaltenAn die Direktion der städtischen Gewerbeschule zu Berlin geschrieben.

  13. Marz. Ein Paket von Familie Schramm aus Yokohama: eine Wurst und eine Flasche Wein. 14. März. Ein Paket von Herrn Schuffner aus Yokohama: eine Wurst, sieben Taschentücher und ein Stück Seife.

 25. März. Heute traf der Rest der in Fukuoka untergebracht gewesenen Kriegsgefangenen ein, 75 Mann einschließlich Mayer-Waldeck, ehemals Gouveneur von Tsingtau, und Stabsoffiziere.

  4. April. Heute kam ein Paket mit Gebäck von meinen Eltern an. Troztdem alles zerdrückt war, konnte ich es noch genießen.

  25. April. Heute erhielt ich mein Löhnungs-Guthaben in Höhe von 27,54 Yen. Ich war freudig überrascht, denn ich hatte mit höchstens zwei bis drei Yen gerechnet.

  2. Mai. Soeben traf ein Brief von meinen Elten ein.

  5. Juni. Heute wurden wir zum ersten Mal ausgeführt. Der Ausflug dehnte sich aus bis zu einem Dorfe, welches ungefähr zweieinhalb Stunden von unserem Lager entfernt liegt. Wir machten dort eine halbe Stunde Rast und konnten uns innerhalb des Dorfes frei bewegen und in den Geschäften kleine Einkäufe machen. Auf dem Rückweg kamen wir durch einige Dörfer, in denen wir Europäer viel Interessates sahen.

  7. Juni. Überrascht wurde ich heute, als ich von einem Besucher aus Yokohama eine Wurst erhielt, die Familie Schramm für mich mitgeschickt hat.

  16. Juni. Heute fand wieder ein kleines Sportfest statt, an dem auch ich beim Tauziehen außer Konkurrenz beteiligt war.

  8. Juli. Einen Brief von meinem kleinen Freund Gerhard aus Yokohama erhalten. 4. Oktober. Antwort von der Gewerbeschule Berlin erhalten.

 3. November. Ein altes Leiden, das ich im Laufe des Jahres mehrere Male hatte, zwang mich auch heute wieder, das Revier aufzusuchen.

 8. November. Familie Schramm aus Yokohama besuchte heute das Lager. Leider konnte ich sie nicht begrüßen, weil ich meiner Krankheit wegen im Bett bleiben mußte. Sie brachten für mich ein Paket mit Wein, Wurst und Keksen.

 18. November. Heute konnte ich das Revier wieder verlassen.

 25. November. Große Aufregung im Lager wegen ungerechter Verteilung von Geldspenden. Versammlung der Soldaten. Wahl einer Deputation. Vorstelligwerden beim Chef des Stabes zwecks Abhilfe

 5. Dezember. Heute verstarb im Landlazarett der Arzt M.Schulz. Laut Anordnung des Kriegsministeriums wird der Leichnam verbrannt, nicht beerdigt.

 18. Dezember. Mein kleiner Freund sandte mir einen Brief aus Yokohama, in dem er mir wieder ein Paket ankündigte.

 24. Dezember. Zu meiner Freude erhielt ich heute eine Geldsendung von meinen Eltern; 30 Mark = 8,33 Yen. Auch das Paket aus Yokohama traf heute ein.

 

1919

 

7.Januar. Wegen der ernsten Lage in der Heimat verlief das Weihnachtsfest sehr ruhig. Es herrschte allgemein eine sehr niedergedrückte Stimmung.

 Das neue Jahr nahm für mich einen traurigen Anfang. Ich war wieder krank und mußte mich ins Bett legen. Überhaupt ist es mit meiner Gesundheit schlecht bestellt. Ja, eine vier Jahre dauernde Gefangenschaft kann einen Menschen allmählich zu einem Wrack werden lassen. Ein Verbrechen ist es an der Menschheit, gesunde, denkende und unschuldige Menschen hinter Drahtzaun einzusperren. Und das über vier Jahre lang. Das nennt sich nun Fortschritt des 20. Jahrhunderts.

 9. Januar. Die erste Post im neuen Jahr sandte ich an Bruno und Eltern. Eine Karte an Familie Schramm.

 22. Januar. Nach fünfmonatiger Pause erhielt ich heute wieder mal einen Brief von Else und Eltern.

 26. Januar. Selten erlebt man einen zweiten Sonntag wie der heutige einer war. Seit ungefähr sechs Tagen herrscht im Lager die Grippe. Heute hat die Krankheit ihren Höhepunkt erreicht. Es liegen ca. 650 Mann. Acht Schwerkranke wurden mit Tragen zum Militärlazarett geschafft, das eine dreiviertel Stunde von unserem Lager entfernt ist. Die Wege sind fast grundlos. Vier Mann tragen den Kranken, weitere vier Mann müssen die Träger stützen und andere vier Mann gehen zur Ablösung mit. Im Lazarett müssen die Kranken stundenlang stehen, bevor sie untergebracht werden. Es herrschen trostlose Zustände. Ein Mann ist heute im Lazarett gestorben.

 27. Januar. Heute wurden wieder acht Kranke ins Lazarett geschafft. Auch haben wir heute wieder ein Toten.

 28. Januar. Die letzten vier Schwerkranken wurden ins Lazartt geschafft.

 29. Januar. Wegen Überfüllung des Militärlazaretts wurde heute eine ganze Baracke als Lazarett eingerichtet. 130 Schwerkranke sind dort untergebracht. Fünf Ärzte und mehrere Sanitäts-Unteroffiziere und -Mannschaften sind jetzt hier im Lager. Zwei Mann sind im Landlazarett gestorben, einer hier im Lager. Die wenigen Gesunden haben jetzt schwer zu tun, entweder Krankentransporte, Beerdigungen, Nachtwachen oder Pflegedienst und dazu noch die Lagerarbeit.

  30. Januar. Heute starben ein Mann im Lagerlazarett und einer im Landlazarett.

  1. Februar. Heute wieder drei Tote, zwei im Lagerlazarett und einer im Landlazarett.

  2. Februar. Zwei Mann starben im Lagerlazarett, einer im Landlazarett.

  3. Februar. Heute starben im Lagerlazarett und im Landlazarett je ein Mann.

  6. Februar. Ein Mann starb heute und einer gestern im Lagerlazarett.

  8. Februar. Ein Toter heute im Lagerlazarett.

  10. Februar. Zwei Mann starben heute im Lagerlazarett.

  22. Februar. Heute wurde eine Totenfeier für die an der Grippe Gestorbenen abgehalten. Für die Evangelischen predigte Pfarrer Schröder, mit den Katholiken wurde eine stille Messe gehalten.

  3. März. Heute erlebte ich meinen 28. Geburtstag, den fünften in der Gefangenschaft.

  5. März. Familie Schramm aus Yokohama war heute hier und besuchte Major Siebel und mich. Abgesehen von den Kleinigkeiten, die sie mir mitbrachten, machte mir das kurze Gespräch mit ihnen Freude. Es ist äußerst angenehm, wenn man sich nach langen Jahren mit deutschen Landsleuten im Fernen Osten ein wenig unterhalten kann.

  7. März. Überrascht wurde ich heute durch einen Brief von Frl. Wuttig. Es ist der zweite in fünf Jahren.

  17. April. Nach mir endlos erscheinendem Warten erhielt ich heute einen Brief von meinen Eltern. Sonderbar, daß ich nicht mehr die rechte Freude darüber empfinde wie früher. Die Zeilen kommen mir immer nichtssagender vor. Ich will meinen lieben Eltern keinen Vorwurf machen; ich kann aber auch nichts dafür, daß es so ist.

  22. April. Wieder ist ein Osterfest vorüber, das fünfte in der Kriegsgefangenschaft. Freudlos und ohne irgendwelche Erinnerungen an ein paar hier fröhlich verlebte Stunden ist es vorbeigezogen. Wie anders war es doch vor Jahren in der lieben alten Heimat gewesen. Werden mir noch einmal solche Stunden beschert werden? Ach, was schreibe ich hier für einen Unsinn, weg mit der Sentimentalität.

  26. April. Heute erhielt ich einen Brief aus Yokohama von meinem kleinen Freunde Gerhard. Er teilt mir mit, daß er mich mit seinen Eltern am nächsten Sonntag besuchen wird. Am nächsten Sonntag ist hier im Lager nämlich ein Turnfest und die Deutschen Tokyos und Yokohamas haben vom Ministerium die Erlaubnis erhalten, das Lager zu besuchen. Das gibt wieder eine kleine Abwechslung in unserem Dahindämmern.

  27. April. Soeben habe ich wieder ein Buch ausgelesen, eines der guten Bücher aus unserer Lagerbibliothek. Ein wahrer Schatz ist diese für uns alle und im besonderen für mich. Viele Bücher habe ich schon davon gelesen und vieles habe ich daraus gelernt. Sie sind eine Quelle, aus der ich geistige Nahrung schöpfe. Sie regen meine Gedanken an und führen mich in Welten, in denen zu leben mir versagt bleibt. Durch sie lerne ich Gesinnung, Vielseitigkeit, Charaktere und Leben der Menschen in anderen Kreisen kennen und, was die Hauptsache ist, beurteilen. Sie bieten mir eine Fülle guter Lehren und Weisheiten und machen mich reicher an Geist und Seele.

  16. Mai. Ein Brief von meinem Freunde Bruno war heute wieder einmal eine kleine Abwechslung für mich. Zu meinem Erstaunen ersah ich aus seinen Zeilen, daß er sich getroffen fühlte, weil ich ihn bat, mir doch öfter zu schreiben. Wenn ich Narr gedacht habe, mir bei einem alten Freund diese Bitte erlauben zu können, so habe ich mich gründlich getäuscht. Ja, such is life.

  28. Mai. Heute erhielt ich einen Brief von meinen Eltern. Sie vermuten mich schon auf der Heimreise, und doch sitze ich hier noch hinterm Drahtzaun.

  8. Juli. Nach einer kurzen Krankheit starb heute hier im Lager ein Reservist, Kapitän eines Handelsschiffes. Die Leiche wurde eingeäschert.

  Zu meiner Freude erhielt ich einen Brief von meinen Eltern.

  11. Juli. Nach längerer Zeit sandte ich heute wieder einmal einige Zeilen in die Heimat, einen Brief an die Eltern und einen an meinen Freund Bruno.

  14. Juli. Nach fast Jahresfrist war es heute wieder möglich, einige Stunden außerhalb des Drahtzauns zu verbringen. Es wurde ein Spaziergang an die Pazifikküste gemacht, die in ungefähr eineinhalb Stunden zu erreichen ist. Der Weg ging durch Reisfelder, Wälder und Dörfer und ich hatte Gelegenheit, einen Blick in das japanische Landleben zu tun. Es ist doch so ganz anders hier als daheim. Das Meer erreichten wir gerade zur Zeit der Ebbe. Ach, wie wohltuend ist es für das Auge, nach fast fünf Jahren wieder einmal blaues Meer zu sehen und wenn der Gesichtskreis für eine Stunde mal ein anderer ist. Eine Stunde lang konnten wir am Strand bleiben, im Dorf frei herumgehen und auch kleine Einkäufe machen. Dann ging's auf einem anderen Wege wieder zurück und wieder hinter den Stacheldrahtzaun.

  23. Juli. Zum Schauturnen unseres Turnvereins waren heute viele deutsche Landsleute aus Yokohama und Tokyo hier zu Besuch. Leider konnten sie aber das Turnen nicht mit ansehen, da es ihnen nicht erlaubt wurde, in das Lager hinein zu kommen. Echte japanische Gemeinheit. Unter den Besuchern war auch mein Gönner Herr Schramm nebst Sohn aus Yokohama. Nur das Kind erhielt die Erlaubnis, ins Lager zu kommen, und ich hatte das Vergnügen, meinem in der Kriegsgefangenschaft gewonnenen 9 jährigen Freund die sportlichen Leistungen der Tuner und die "Herrlichkeiten"  des Lagers zu zeigen.

 9. September. Nach langen Verhandlungen mit dem japanischen Lagerbüro ist es endlich gelungen, durchzusetzen, daß hier im Lager Kinovorträge gezeigt werden können. Eine Vorstellung hat bereits stattgefunden.

  14. September. Heute abend war Kinovorstellung, gestört durch strömenden Regen. Trotzdem hielten alle Zuschauer bis zum Schluß durch. Alle waren bis auf die Haut durchnäßt. So etwas können sich auch nur die blödsinnigen Kriegsgefangenen von Narashino leisten.

 22. September. Endlich scheint man sich auch um die Kriegsgefangenen hier in Japan zu kümmern. Heute kam die Meldung, daß wir noch vor der Ratifizierung des Friedensvertrages* freigelassen werden sollen. Die Schweizer Gesandtschaft übernimmt unsern Heimtramport. Die Vorbereitungen dazu werden beschleunigt.

 Gott sei Dank, daß es endlich einmal so weit ist, weiß man doch nun etwas Positives. Sollten die Vorbereitungen noch vier bis sechs Wochen in Anspruch nehmen, so können wir vielleicht noch zum Weihnachtsfeste in der Heimat sein.

      *Vertrag von Versailles vom 28.6.1919

 16. Oktober. Die Schweizer Gesandtschaft übermittelte uns heute die Nachricht, daß sie auf telegraphischem Wege von der deutschen Regierung die Vollmacht erhalten habe, die deutschen Kriegsgefangenen zu übernehmen und nach Hause zu befördern. Es wird angenommen, daß für die Vorbereitungen sechs Wochen benötigt werden.

  20. Oktober. Kapitän Sachser erhielt die Erlaubnis, nach Tokyo zu fahren und mit dem Schweizer Gesandten und einigen Herren der japanischen Regierung wegen des Heimtransports zu konferieren.

 31. Oktober. Wurde wegen plötzlicher Erkrankung in das Militärlazarett gebracht. 9. November. Als geheilt aus dem Lazarett entlassen.

  17.November. Die Verhandlungen zwischen Kapitän Sachser, der Sweizer Gesandtschaft und der japanischen Regierung sowie mit einigen Reedereien führte zur Charter von drei Dampfern, die am15. und 20. Dezember und Ende Dezember abfahren sollen.

  18. November. Letzten Brief aus Japan an Eltern und Schwester abgeschickt. Tags darauf ebensolchen an Richard.

 26. November. Die drei Ponapesen Wilhelm, Georg und Samuel, die in Tsingtau an Bord der Jaguar Dienst taten, wurden heute von hier entlassen. Sie sind jetzt japanische Untertanen, und es ist sonderbar, daß sie nicht schon früher in ihre Heimat zurückgeschickt worden sind.

  12. Dezember. Durch die Unvorsichtigkeit des neben mir liegenden Kameraden verunglückte heute meine Gitarre, die ich im Jahre 1916 mit den primitivsten Werkzeugen selbst gebaut hatte. Manches Mal hatte ich mir mit ihr die trüben Stunden der Gefangenschaft vertrieben, und gern hätte ich sie als Andenken mit in die Heimat genommen.

  15. Dezember. Von Herrn Schramm aus Yokohama erhielt ich heute einen Brief. Er äußerte darin den Wunsch, daß ich Urlaub nach dort nehmen sollte, um ihn und seine Familie vor meiner Abreise nach Deutschland noch einmal zu sehen. Auch möchte er mir Yokohama zeigen. Aus verschiedenen Gründen ist dies leider nicht möglich.

 17. Dezember. Unerwartet erschien heute Herr Schramm und besuchte Herrn Major Siebel und mich. Er wollte uns vor unserer Abreise noch einmal sehen und sprechen. Er brachte uns Grüße von seiner Familie und mir persönlich ein Abschiedsgeschenk in Gestalt eines Photoalbums mit Lackeinband.

 18. Dezember. Große Tätigkeit im ganzen Lager. Packen und Verschnüren der Kisten für den Transport. Abtransport der Kisten zur Bahn.

  19. Dezember. Heute verließ das Vorbereitungs-Kommando in Stärke von einem Offizier und 32 Mann das Lager, um im Hafen von Kobe den für das Lager Narashino bestimmten Dampfer Kihoku Maru bis zu unserem Eintreffen einzurichten. Trotz der kurzen Zeitspanne, die uns nur noch von unserer Befreiung trennt, war es ein Abschiednehmen, als würden wir uns nicht mehr wiedersehen.

 23. Dezember. Heute erhielten wir den Besuch des ersten Deutschen, der direkt aus der Heimat kam. Er brachte uns erfreuliche Nachrichten.

 24. Dezember. Vorbereitungen für die Abreise. Verteilung des Proviants, Einteilung in Wagenklassen und Bord-Korporalschaften. Gott sei Dank! Nun wird es endlich ernst mit unserer Heimreise.

  Um elf Uhr vormittags ließ uns unser Divisionsoffizier Oberleutnant Diesing zu sich bitten, um von uns Abschied zu nehmen, weil er schon mit dem ersten Transport das Lager verläßt. Mit ernsten Worten gedachte er unseres Zusammenlebens bei der Marine und während der Gefangenschaft und wünschte uns gute Reise und gute Ankunft in der Heimat.

 Mit etwas mehr Geld und Proviant versehen, versuchten wir, uns den letzten Weihnachtsabend in diesem Land so gemütlich wie nur irgend möglich zu gestalten. Wir bereiteten uns ein schönes Abendessen und schwelgten schon in den Genüssen der Heimreise und der Ankunft im lieben Vaterlande.

  Aus der schönsten Unterhaltung herausgerissen wurde ich durch den Wunsch meines Oberingenieurs, zu ihm auf sein Zimmer zu kommen. Nach einem eineinhalbstündigen Gespräch kehrte ich wieder zu meinen Kameraden zurück. Wir leerten das letzte Glas auf unsere bevorstehende Reise und gingen zu Bett mit dem Gedanken, daß nun endlich unsere Befreiungsstunde geschlagen hat und wir das letzte Mal hinter Drahtverhau schlafen müssen.

  25. Dezember. Erster Weihnachtsfeiertag. Großes Aufräumen und Fertigmachen zur Abreise. Zehn Minuten nach zehn Uhr Antreten auf dem großen Platz. Abschiedsrede des japanischen Lagerkommandanten. Um 11:18 Uhr am 25. Dezember tat ich den ersten Schritt in die wiedererlangte Freiheit. Um 12:50 Uhr Ankunft am Bahnhof Tsudanuma. Hier erhielt ich den letzten Brief aus der Heimet von meinen Eltern. Um 1:27 Uhr nachmittags Abfahrt von Tsudanuma. Nachts um 12:40 Uhr passierten wir Yokohama, wo uns am Bahnsteig einige Deutsche erwarteten.

  26. Dezember. In Shinagawa angekommen, hatten wir vier Stunden Aufenthalt. Kurz nach sechs Uhr am Morgen fuhr unser Zug am Fujiyama vorbei, der wie zum Abschied mit seinem schneebedeckten Haupte grüßte.

  27. Dezember. Morgens um 8:38 Uhr trafen wir in Kobe ein, um 1:30 Uhr mittags war Abmarsch zum Hafen. Meine Krankheit hatte mir während der letzten Stunden der Bahnfahrt sehr zu schaffen gemacht, und so mußte ich mit einer Rikischa zum Hafen befördert werden. Um zehn Uhr waren wir an der Pier. Im Auftrag der Schweizer Gesandtschaft übernahm Herr Kestner vom Hilfsausschuß Tokyo die Gefangenen. Nun waren wir wirklich frei und freie Bürger. Ein erhebendes Gefühl, frei zu sein und gehen zu können, wohin man will. Nach dieser Übernahme ging es sofort an Bord der Kihoku Maru. Der Nachmittag wurde ausgefüllt mir Gepäckübernahme. Nachdem jeder sein Bett erhalten hatte, konnten wir an Land gehen.

  28. Dezember. Bei schlechtem Wetter fuhren wir heute morgen um acht Uhr von Kobe ab.

  29. Dezember. Vier Uhr nachmittags Ankunft in Moji, einem kleinen Hafen an der Straße von Shimonoseki, im Norden der Insel Kyushu. Übernahme einiger Nachzügler und deren Gepäck.

  30. Dezember. 10:50 Uhr vormittags Abfahrt von Moji bei sehr kaltem und schmuddeligem Wetter. Um sieben Uhr abends kurzer Aufenthalt auf See wegen eines Maschinendefekts.

  31. Dezember. Erstes Auftreten meiner alten Krankheit an Bord der Kihoku Maru. Neujahrsnacht auf hoher See zwischen Japan und China. Krank.

 

1920

 

  2. Januar. Um zwei Uhr nachts waren wir auf der Außenreede von Tsingtau angekommen und liefen um 8:15 morgens in den Hafen ein. Erwartet wurden wir von wenigen Deutschen mit brausenden Hurra und Tücherschwenken. Viele Chinesen erwarteten ihren ehemaligen Herrn und freuten sich, wenn sie ihn unter den Angekommenen fanden. Abends begann die Übernahme unseres in Tsingtau 1914 zurückgebliebenen Gepäcks.

  4. Januar. Urlaub. Dr. Weichert vom Faber-Krankenhaus erbot sich, die Kranken zu untersuchen und ihnen mit Rat und, wenn möglich, mit Arzneien zu helfen. Ich machte mich also mit auf den Weg. Leider hätte die Untersuchung erst am späten Nachmittag stattfinden können, und so sah ich davon ab, weil ich für den Nachmittag mit einigen Kameraden zu einer Frau Eger eingeladen war. Dort angekommen, bekam jeder von uns ein warmes Wannenbad und ein Mittagessen, bestehend aus Hasenbraten, Kartoffeln und Rotkohl. Eine zwanglose Unterhaltung folgte nun bis zum Abend. Nochmals gestärkt durch ein kaltes Abendessen, verließen wir, reichlich versehen mit Zigarren und Zigaretten, das gastliche Haus. Auf dem Wege zum Schiff besuchten wir das chinesische Cafe unseres alten Peter.

  5. Januar. Um zwei Uhr nachmittags verließen wir unter Tücherschwenken der Zurückbleibenden den Hafen von Tsingtau. Leider mußten wir einen Toten zurücklassen. Unsere Fahrt ging weiter nach Niederländisch-Indien.

  17. Januar, Heute starb nach 24-stündiger Krankheit der Feuerwerker Weiß an Lungenentzündung. Um zwei Uhr nachmittags wurde er auf hoher See, zwischen Singapore und Sabang, bestattet.

  18. Januar. Hatte heute meinen ersten Anfall an Bord der Kihoku Maru. Um zehn Uhr vormittags liefen wir in den Hafen von Sabang ein und gingen vor Anker. Am Nachmittag machte unser Schiff an der Mole fest. Um vier Uhr war Landgang möglich, doch war ich nicht fähig, davon Gebrauch zu machen.

  19. Januar. Übernahme von Kohlen, Vieh, Proviant, Eis und Wasser.

  20. Januar. Um 4:30 am Nachmittag verließen wir Sabang. Einige unserer Leute, die in Sabang eine Stellung angenommen hatten, blieben zurück.

  24. Januar. Um neun Uhr vormittags auf der Höhe von Ceylon.

  25. Januar. Meine vor Sabang eingetretenen Atembeschwerden sind wieder so stark, daß ich heute das Bett nicht verlassen konnte. Es ist ein Jammer mit meiner Krankheit. Vielleicht erreiche ich die Heimat nicht mehr lebend.

  28. Januar. Mein Zustand hat sich wieder soweit gebessert, daß ich aufstehen konnte.

  29. Januar. Plötzlicher Rückschlag, ich mußte ins Schiffslazarett gebracht werden.

  31. Januar. Keine Besserung. Ich gebe bald die Hoffnung auf, meine Lieben daheim wiederzusehen.

  1. Februar. Nach ziemlich gut verbrachter Nacht gegen Morgen leichte Besserung. Die Fahrt geht an Aden vorbei, Einfahrt in die Straße von Bab el Mandeb.

  2. Februar. Während der Nacht und des Tages stetige Besserung. 5. Februar. Zum ersten Mal das Bett verlassen.

  6. Februar. Erholung in der Mittagssonne des Roten Meeres bei guter Lektüre, eingehüllt in Decken und auf einem Schemel sitzend.

  7. Februar. Mittagszeit. Wieder gut eingepackt an der Reling sitzend gedenke ich meiner baldigen Heimkehr. Aus dem Lazarett entlassen. Brief an Eltern geschrieben. Zehn Uhr abends Suez erreicht.

  8. Februar. Fahrt durch den Suezkanal. Wie hat sich doch so vieles hier verändert seit meiner ersten Durchreise im Mai 1914. Deutlich sieht man die Spuren der Kämpfe zwischen Türken und Engländern. Passieren eines großen englischen Truppenlagers auf beiden Seiten des Kanals.

  9. Februar. Wir sahen mehrere ehemals deutsche Schiffe mit englischen Truppen an Bord. Zehn Uhr vormittags in Port Said.

  10. Februar. In Port Said Übernahme von Proviant, lebendem Vieh und Wasser. Zwei Uhr nachmittags Abfahrt. Schweres Wetter im Mittelmeer.

  17. Februar. Plötzlicher Kurswechsel nach Norden wegen Minengefahr.

  19. Februar. Nach neun Tagen Fahrt durch das Mittelmeer bei anhaltend schwerem Wetter erreichten wir heute abend die Meerenge von Gibraltar.

  24. Februar. Anzeichen eines Anfalls.

  25.Februar. Zehn Uhr abends Dover-Calais passiert. Wegen Krankheit im Bett.

  26.Februar. Am Nachnittag im dichtesten Nebel mehrmaliges Stoppen, um Haake-Feuerschiff zu finden. Vergebliche Suche, schon 33 Seemeilen zu weit nach Norden. Fünf Uhr abends geankert. Telegraphische Anfrage in Wihelmshaven, ob ohne Lotsen weitergefahren werden soll. Angabe des Schiffsortes und Bitte um Kursangabe.

  27.Februar. Um sechs Uhr morgens Anker auf. Antwort aus Wihelmshaven eingetroffen. Unser Schiff liegt direkt vor einem Minenfe1d. Neuer Kurs ist angegeben, es soll ohne Lotsen weitergefahren werden.

  Mein Zustand hat sich soweit gebessert, daß ich wieder aufstehen kann.

  28.Februar. Kurz nach Mitternacht erreichten wir das Jade-Feuerschiff, von dem der Lotse an Bord genommen wurde. Nun ging die Fahrt die Außenweser hinauf bis zur Wilhelmshavener Schleuse, wo wir um drei Uhr morgens ankerten. Wir hatten nun das letzte Stück unserer Seereise hinter uns und lagen geborgen vor unserm deutschen Hafen. 64 Tage hat die Reise gedauert, und von Glück kann ich sagen, daß ich sie trotz Krankheit, schwerem Wetter und ständiger Minengefahr gut überstanden habe. Von Seekrankheit habe ich während der ganzen Reise nichts gespürt.

  Um acht Uhr morgens fuhren wir durch die Schleuse in den Innenhafen von Wihelmshaven. Während unseres Anfenthalts in der Schleuse wurden wir von einem höheren Marineoffizier mit bewegten Worten willkomen geheißen. Eine Ehrenkompanie hatte Aufstellung genommen, und unter präsentiertem Gewehr und den Klängen einer Marinekapelle ging es langsam in den Innenhafen. Trotz des herzlichen Empfangs waren wir erschrocken von dem Bild, das der Hafen bot mit den vielen Wracks und der fast unheimlichen Ruhe. Bei meiner Ausfahrt am 22.April 1914 lagen hier stolze Schiffe, und es herrschte reges und geschäftiges Leben überall. Ein trauriges Bild! Wie mag es im übrigen Deutschland aussehen? Kurz vor unserer Anlegestelle fanden wir die Hohoku Maru, die einige Tage vor uns mit entlassenen deutsehen Kriegsgefangenen aus Japan hier eingelaufen war. Um zehn Uhr machten wir fest und gingen mit unserem Gepäck geordnet an Land. Nun stand ich erstmals wieder, seit sechs Jahen, auf den Boden meiner Heimat und harrte der kommenden Ereignisse. Auf den in der Nähe liegenden Wohnschiffen erhielten wir Verpflegung, Bad, ärztliche Untersuchung und Einkleidung. Es gab die Gelegenheit, letztes japanisches Geld zu wechseln (1 Yen = 40 Mark). Ich telegraphierte sofort nach Hause und kündigte meine nahe bevorstehende Ankunft an. In einer Kaserne in der Nähe fanden wir Unterkunft für die Nacht.