Hinter Stacheldraht entfaltete sich vor gut neunzig Jahren auf der Insel Shikoku deutsches Leben. Im Rückblick erscheint es als Idylle. Man buk Brot und hörte Beethoven. Der blieb.
Von Petra Kolonko, NarutoDie meisten kommen wegen Beethoven ins Deutsche Haus. Mit seiner breiten Front fällt das Gebäude zwischen vielen kleinen Häuschen auf, aber Laufpublikum gibt es hier kaum, so weitab von allem auf der Insel Shikoku. "Am 1. Juni 1918 wurde hier Beethovens neunte Symphonie zum ersten Mal in Japan gespielt - von Deutschen", erläutert die Empfangsdame und empfiehlt die Besichtigung eines Bronze-Beethovens im Garten.
Das beeindruckt japanische Touristen. Die Neunte gehört in Japan zum Jahreswechsel wie der Besuch im Tempel. Viele ältere Japaner können die "Ode an die Freude" sogar noch auf Deutsch singen. Wer sich im Jubiläumsjahr "150 Jahre deutsch-japanische Freundschaft" auf die japanische Spur der Symphonie begibt, landet in einer Episode aus der ersten Hälfte dieser Ära. Da gab es in der kleinen Stadt Naruto in der japanischen Präfektur Tokushima ein Gefangenenlager, in dem Konzerte veranstaltet, Theaterstücke aufgeführt und Vorträge gehalten wurden, das eine Versicherung hatte, einen Turnverein und eine Kneipe, eine Leihbibliothek und einen Teich, auf dem selbstgebaute Segelboote zu Wasser gelassen wurden. Zum Frühstück gab es Brötchen, an Weihnachten Karpfen blau.
Es war eine ganz besondere Ansammlung von Deutschen, die hier von April 1917 bis zum Jahr 1921 in langen Baracken hinter Stacheldraht lebten. Sie waren Berufssoldaten, Freiwillige, Beamte und andere Zivilisten, die in China gefangengenommen worden waren, wohin sich viele von ihnen als Freiwillige gemeldet hatten - als Verteidiger von Tsingtau (Qingdao), der wilhelminischen Vorzeigekolonie im Fernen Osten. Tsingtau war 1898 als deutsches Pachtgebiet China abgezwungen worden. Deutschland machte unter großen Kosten aus einem Fischerdorf eine Musterstadt mit Marinestützpunkt.
Auch Japan interessierte sich für den strategisch günstig gelegenen Ort auf der Halbinsel Jiaozhou und den Hafen von Tsingtau. Der Erste Weltkrieg brachte die Gelegenheit. Kurz nach der Kriegserklärung griff Japan Tsingtau an. Die Deutschen hatten kaum Chancen gegen die Übermacht, sie hielten zwei Monate aus, dann kapitulierten sie am 7. November 1914. Die Deutschen mussten Tsingtau verlassen, viertausend Männer wurden nach Japan abtransportiert.
"Wahrscheinlich waren die Japaner verblüfft, dass die Deutschen sich gefangen nehmen ließen, und sie hatten keine Vorstellung davon, was sie mit ihnen machen sollten", sagt der Historiker Dierk Günther von der Tokushima-Universität. Die Gefangenen wurden in schlecht ausgestatteten Lagern in Japan interniert. Nach Kritik über die Zustände bemühte sich Japan um Verbesserung. Das Militär legte die drei Lager auf der Insel Shikoku zu einem neuen zusammen. So landeten etwa 1000 Soldaten im Lager Bando in Naruto.
Überreste des Lagers sind erhalten. Zehn Gehminuten vom Deutschen Haus entfernt heißt ein überwuchertes Gelände mit zwei Teichen heute "Deutscher Park". Das Lager war noch nach der deutschen Zeit bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs vom japanischen Militär benutzt worden. Einem Gedenkstein ist es zu verdanken, dass sich Japaner und Deutsche in den sechziger Jahren wieder an die deutsche Vergangenheit des Lagers erinnerten - und einer pietätvollen Japanerin.
Harue Takahashi, die in der Umgebung des Lagers wohnte, entdeckte den Stein mit der ausländischen Inschrift, hielt ihn für ein Grabmal und pflegte es, wie sie auch die Gräber ihrer Familie pflegte. Im Jahr 1960 verbreitete sich die Kunde von Frau Takahashis Freundschaftsdienst über die lokale Presse. Sowohl Japaner als auch Deutsche erinnerten sich wieder des Lagers. Ehemalige Gefangene aus Deutschland und deren Nachfahren meldeten sich, berichtet der Leiter des Deutschen Hauses, Herr Kawakami. Frau Takahashi wurde im Jahr 1964 mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.
Materialien und Erinnerungsstücke wurden in Japan und Deutschland zusammengetragen. Fotos und Skizzen, Briefe und Lagernachrichten sammelten sich; ein erstes Deutsches Haus stellte sie 1972 aus. Die Stadt Naruto knüpfte neue Kontakte mit Deutschland. Eine Partnerschaft mit Lüneburg wurde begonnen. Das jetzige Deutsche Haus ist nach dem Modell des Lüneburger Rathauses gebaut.
Vor allem die ausführlichen, mal nachdenklichen, mal humorvollen Artikel der Lagerzeitung "Die Baracke" zeichnen ein detailliertes Bild des Lagerlebens. "Bando war eine deutsche Kleinstadt", sagt Kawakami, "nur ohne Frauen." Dass die Deutschen und einige wenige Gefangene anderer Nationalität ihr Leben hinter dem Stacheldraht selbst organisieren konnten, war vor allem dem japanischen Lagerleiter Toyohisa Matsue zu verdanken. "Matsue war ein Berufssoldat und das, was wir als ernsten und aufrichtigen Samurai bezeichnen", sagt sein Biograph Ichiro Tamura. Matsue glaubte, dass die Sieger eine besondere Verpflichtung zur Fürsorge über die Besiegten hatten. Obwohl seine Vorgesetzten eine strenge Behandlung der Kriegsgefangenen verlangten, legte er die Vorschriften großzügig aus. Die Gefangenen mussten nur morgens zum Appell antreten, sonst gab es für sie keine Verpflichtungen und keine Zwangsarbeit, sagt Kawakami. Matsue sprach etwas Deutsch, interessierte sich für klassische Musik und westliches Essen. "Auch Bando hatte Probleme, die Gefangenen litten unter dem Mangel an Privatsphäre und an Heimweh. Aber in anderen Lagern gab es damals viel mehr Spannungen", sagt der Historiker Günther.
Das Lager bestand aus acht Mannschafts- und zwei Offiziersbaracken. Es gab diverse Küchen, eine Schlachterei, eine kleine Ladenstraße mit Geschäften, eine Schreinerei, eine Konditorei, sogar eine Kegelbahn. Die Gefangenen bauten eine Lagerdruckerei, ein chemisches Labor und eine Warmbadeanstalt. Außerhalb des Lagerzauns mit Stacheldraht stand ihnen ein kleines Stück Land für Gemüse und Hühnerzucht zur Verfügung. Etwas erhöht und abseits von den Baracken, hatten sich einige Offiziere kleine Holzhütten gebaut, die im Lagerplan als "Villenviertel" ausgewiesen sind. Für die achtzig japanischen Bewacher gab es ein Verwaltungsgebäude, in dem sich auch das Zensurbüro befand.
Die Langeweile wurde mit Sport- und Kulturveranstaltungen bekämpft. Im April 1918 etwa sind in der Lagerzeitung eine Aufführung von Kleists "Zerbrochenem Krug", ein Vortrag über Europa in der Tertiärzeit, ein chinesischer Abend und ein Vortrag über deutsche Geschichte und Kunst verzeichnet. Auch Informationen über den Kriegsverlauf wurden bekanntgegeben. Aufmerksamer aber wurden die Aktivitäten der drei verschiedenen Kapellen beobachtet, die sich gegenseitig die Musiker abspenstig machten und mit zum Teil selbstgebauten Instrumenten auch schwierige Stücke angingen. Weil auf dem engen Raum ständig irgendwo musiziert und geübt wurde, gab es auch Beschwerden über diese dauernde "Lärmbelästigung" von Seiten derer, die keine Musikliebhaber waren.
Wahrscheinlich ist es auch Lagerleiter Matsue zu verdanken, dass nach dem Kriegsende die Beschränkungen gelockert wurden und einige deutsche Gefangene sich auch außerhalb des Lagers bewegen durften. Es gab Wander- und Badeausflüge. Zu sportlichen Wettkämpfen im Lager durften auch japanische Zuschauer kommen. Dadurch entspann sich ein vorsichtiger Kontakt mit der örtlichen Bevölkerung, die von den Deutschen und ihren handwerklichen Künsten beeindruckt - und von ihrem Aussehen belustigt waren. Man nannte sie "doistu-san", "Herr Deutscher". Aber Shikoku war immer bekannt für seine Gastfreundlichkeit. Durch die Insel verläuft einer der wichtigsten Pilgerwege Japans über 88 Tempel. Die Pilger wurden stets gastfreundlich aufgenommen. Vielleicht zeigten sich die japanischen Nachbarn auch deshalb relativ unkompliziert im Umgang mit den Deutschen, meint Günther.
Lagerkommandant Matsue ordnete auch an, dass die Japaner von den Deutschen lernen sollten. So ist noch heute in einem Park nahe dem Ryozennji-Tempel eine Steinbrücke zu besichtigen, die von den deutschen Gefangenen gebaut wurde - als Demonstration deutscher Baukunst für Japaner, die nur Holzbrücken kannten. Auf Shikoku gab es damals nur Holzbrücken. Zu einer Ausstellung im Tempel Ryozennji über deutsche Kultur und handwerkliche Produkte des deutschen Lagers kamen 50.000 Besucher. Die Gefangenenbäckerei unterrichtete in deutscher Backkunst. "Der Japaner Fujita hat in der Brotbäckerei gearbeitet", steht in dem Zeugnis, das in der Ausstellung des Deutschen Hauses zu sehen ist. Im Zentrum von Tokushima gibt es noch heute eine kleine "Deutsche Bäckerei". Bäcker Tsunemitsu Oka erzählt, dass sein Großvater bei jenem Fujita das Backen lernte. Die Familie besitzt noch ein Rezeptbuch mit den ursprünglichen Rezepten von Fujita, darunter eines für Hefegebäck.
Das Lager Bando erlangte in Japan so viel Bekanntheit, dass im Jahr 2006 der japanische Regisseur Masanobu Deme einen aufwendigen Film darüber drehte. Der Film rückte die Aufführung der Neunten in den Mittelpunkt der Geschichte. Der Film "Ode an die Freude", auf Japanisch "Paradies der Bärte", war bei der älteren Generation in Japan ein großer Erfolg. Er bestärkte das romantische Bild von Deutschland als Land der Musik und der Klassik. Und er zeigte - anders als die vielen Filme über den Zweiten Weltkrieg, als Japan Deutschlands Verbündeter war - das kriegführende Japan von einer guten Seite. Den Historikern im Deutschen Haus ist der Film "zu melodramatisch" geraten. Dass die Aufführung der Neunten im Lager wirklich wie im Film der große Erfolg war, sei zu bezweifeln. In der Lagerzeitschrift "Die Baracke" werde nur die Tatsache der Aufführung verzeichnet, aber es finde sich keine Würdigung der Aufführung wie bei anderen Konzerten im Lager. Vielleicht haben die Orchester der Gefangenen aber wirklich zum Siegeszug der westlichen klassischen Musik in Japan beigetragen.
Die letzten Gefangenen verließen erst Anfang 1920 das Lager. An die 60 Häftlinge ließen sich in Japan nieder. Noch immer kommen Nachfahren der Gefangenen ins Deutsche Haus. An jedem ersten Juni-Sonntag wird dort Beethovens Neunte gespielt. Chöre aus ganz Japan kommen dann. Die Schlusstakte der Ode an die Freude erschallen alle halbe Stunde durch die Ausstellungshallen des Deutschen Hauses. Am Donnerstag kommt der Bundespräsident. Als Souvenir könnte auch er sich eine Flasche Mosel-Wein kaufen. "Neunte Symphonie" steht auf dem Etikett.